Editha Klipstein : Erinnerungen um Rilke (1952)

Zur Einführung
Rolf Haaser

Die Laubacher Künstlerin und Schriftstellerin Editha Klipstein (1880-1953), Ehefrau des Graphikers Felix Klipstein, hatte im Sommer 1915 einige Wochen lang in München einen freundschaftlichen Umgang mit Rainer Maria Rilke, der in (z.T. noch unveröffentlichten) umfangreichen Erinnerungen Editha Klipsteins und in einer Reihe von erhalten gebliebenen Briefen dokumentiert ist. Von diesem München-Aufenthalt datiert auch die Bekanntschaft Editha Klipsteins mit einigen Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Rilkes, darunter der Malerin Lou Albert-Lazard, dem Kunsthistoriker und Schriftsteller Wilhelm Hausenstein und dem Schriftsteller Karl Wolfskehl. Eine lebenslange Freundschaft Editha Klipsteins mit der Schweizer Schriftstellerin Regina Ullmann wurde von Rilke persönlich gestiftet. Wie auch Regina Ullmann betrachtete Editha Klipstein Rilke von diesem Zeitpunkt an als ihren literarischen Mentor. So ist es verständlich, dass der Tod Rilkes am 29. Dezember 1926 Editha Klipstein schwer traf; aber erst im November und Dezember 1938 findet sie Gelegenheit, Rilkes Grab zu besuchen. Die Schweizerreise, die sie über Zürich, St. Gallen und Bern ins Wallis an Rilkes Grab in Raron und zu seinem letzten Wohnort in Muzot führt, steht ganz im Zeichen des Wiedersehens mit der Freundin Regina Ullmann und der gemeinsamen Erinnerung an Rilke. Die Pilgerreise an das Grab Rilkes unternimmt Editha Klipstein in Begleitung ihrer Schwägerin Frieda Klipstein, der Frau des Kunsthändlers August Klipstein in Bern. Editha Klipsteins Aquarellzeichnung mit dem Titel „Die letzten Rosen aus Rilkes Garten“, heute vom Verein zur Pflege des künstlerischen Nachlasses von Felix und Editha Klipstein e.V. in Laubach verwahrt, ist während dieser Reise entstanden.


Editha Klipstein
„Erinnerungen um Rilke“

Manuskript, verfasst im Februar 1952, ein Jahr vor Editha Klipsteins Tod.
(Auszüge aus dem Text erstmals veröffentlicht in: Gießener Anzeiger vom 23. Dezember 2006, S. 18.)

Ein Teil von mir, und ich gehe immer mehr von der Idee der Schichten aus, die wir in uns haben, (d.h. dass wir viel mehr die sich befeindende Welt in uns selbst haben als außer uns,) – also ein Teil von mir hat oftmals bedauert, daß ich die Brieffreundschaft, die Rilke mir antrug, ablehnte, und auf seine wirklich gütige Frage: ob er mich nicht einmal in Laubach besuchen solle, beinahe grob meinte: es würde ihm alles dort viel zu einfach und zu langweilig sein.
Zweifellos ging diese Ablehnung mit aus jener Eitelkeit hervor, die wir am ungernsten zugeben; ich fühlte vor, daß ich eine wenn auch sehr distanzierte Freundschaft mit Rilke nicht in guter Form würde durchsetzen können, es fehlte der letzte Glaube. Für mystische Lyrik war ich unbegabt, mein Herz wurde von Mörikes Gedichten gerührt, und ich glaubte auch darin einen unbestechlichen Sinn für Poesie zu beweisen. Aber im Kreis der Rilke-Verehrer hätten meine geheimsten Urteile barbarisch geklungen, und unausgereift waren sie zweifellos.

Jetzt, da die unzähligen Briefe Rilkes im Druck vorliegen, bin ich froh, nicht unter den Korrespondentinnen zu sein, obwohl ich einige Briefe aus dem Anfang der Bekanntschaft treu bewahre. Immer war in mir ein Widerstand, auf etwas einzugehen, worüber Flaubert sich lustig gemacht haben würde, so drollig dies klingen mag. Aber Flaubert gegenüber fehlt das Wort, das man Bossuet, dem Prediger, ins Grab nachgerufen hat: „Zu schön!“ Zudem grämte mich Rilkes Bestimmung: daß alle seine Briefe nach seinem Tode für den Druck freigegeben werden sollten. Es ging mir gegen das Gefühl, einen Brief gleichsam schon zu schreiben für den Druck. Ob diese Empfindungen nun richtig oder falsch waren? Ich glaube, Rudolf Kassner würde mir Recht geben, dass ein jeder Mensch eben aus seiner Art heraus urteilen und handeln müsse, und er selbst, der Rilke nicht kritiklos sah, hat ihn aufs Höchste bewundert, daß er immer seine Art bestätigte. Dem muß ich wahrlich beistimmen: Rilke baute aus seiner Person ein einzigartiges Bild, das ihn dann überpersönlich überleben konnte. Man weiß keinen, der ihm auch nur entfernt ähnlich sah.
Hingegen haftet an Stefan Georges Gestalt etwas Volkstümlicheres. Es war eine primitive Körper-Leidenschaft in ihm, die den anderen fehlte, und auch mit Geschmacklosigkeiten versöhnte, wie etwa der vielfach bespöttelte Kultus mit dem schönen Maximin. Mir kommen diese Auswüchse jetzt fast liebenswert vor. War denn der bürgerliche Geschmack wirklich jemals ein Richter für den Geschmack? – Auch konnte George warnend den Finger heben, was die Erziehung der Kinder anbelangte. Der Sohn der Weinbauern soll ohne jeden Luxus gelebt haben; wenn er sich zelebrieren ließ, war es schließlich sein Werk, das er mitfeiern half, und aus der Zielrichtung seines Werkes hat er bedeutende Schüler gezeugt. Er war verbundener mit der Erde, auch Hoffmannsthal war dies. Aber wozu vergleichen? Der Schritt, der jetzt getan werden muß, scheint mir, ist: daß wir alles Moralisieren bei der Würdigung Anderer fahren lassen müssen und dankbar sein müssen, wenn er sich selber erreicht. Natürlich kann ein oder der andere mir von Natur mehr liegen, indessen könnte sich vielleicht gerade jetzt ein altes Bildungsideal erneuern, daß die Urteile der Menschen über sich selbst hinaus sich befreunden und in diesem Raum lebendiger Gegensätze sich wieder etwas wie eine gesellschaftliche Kultur bildet.
Gegen den Münchener Kreis zu kämpfen wäre mir damals nie eingefallen, dazu ging er mich zu wenig an. Die Persönlichkeiten, die mich artlich am meisten interessiert hätten, etwa Thomas Mann und Annette Kolb, traf ich nicht. Zufällig, kann man nur sagen. Aber ist es nicht mystisch, wie man oft die großen Zufälle umgeht, und Menschen, die sehr bestimmend auf uns hätten wirken können, entweder garnicht oder erst sehr spät kennen lernt? Ich ging eines Nachmittags in München in der Sofienstraße lange auf und ab vor dem Kolb’schen Hause gegenüber dem Glaspalast, der ja inzwischen abgebrannt ist. Warum trat Annette nicht zufällig heraus? Ich hätte sie ganz gewiß angeredet. Warum traf ich sie auf keiner der Gesellschaften? Zufall. Dabei hörte ich im Gespräch viel über sie. Aber die Initiative, sie als „Berühmtheit“ aufzusuchen, fehlte mir. Es war vielleicht auch sonst zu viel an persönlichem Erleben zu bewältigen, und ich wollte keine neugierige Interviewerin sein. Diese gleichen Hemmungen hatten leider Felix und mich 1909 in Paris verhindert, Rodin aufzusuchen, an den wir von Zuloaga und Cossio großartige Empfehlungen in der Tasche trugen. Man kann da nur sagen: es sollte eben nicht sein.
Was aber, um dieser Nachdenklichkeit ihren Sinn zu geben, hatte sich in meinem doch einfachen und bescheidenen Dasein derart zufriedengestellt, daß keinerlei Skepsis dagegen aufkam? Wann einmal war mein Wesen erfüllt gewesen von einem ganz gläubigen Ja, in dem man sich allem Großen dieser Erde ebenbürtig fühlte? Am Höchsten das, was ich unverwertet sah, etwa das spanische Volksleben, das Zigeunerleben auch, das den Menschen für immer „verschlingen“ kann in seine Urgründe und ihn der unterirdischen Vegetation zurückgibt. In Paris war es die echte Bohéme, das saftig-kritische Leben der Künstler dort untereinander, der Lebenden und derer, die die Erinnerung bewahrte. Es entzückte mich, wie die Goncourts erzählten von Flaubert, der im Kreise seiner nahen Freunde ihnen in Croissèt die Salambo vorliest. Sie sollten einen ganzen Tag zuhören und wurden zwangsweise festgehalten, obwohl sie sich langweilten und wild protestierten. Aber Flaubert ließ nicht locker; sie mußten hören bis zu Ende. Muß man da nicht herzlich lachen und zugleich die Sicherheit des menschlichen Vertrauens bewundern unter den sogenannten Geistigen?
Flaubert hat dann das Werk selbst gerichtet, „das Buch ist verfehlt, die orientalische Frau ist undurchschaubar.“ Indessen bleibt natürlich das Niveau des Werkes unbestritten, und dieses gemeinsame Wissen um das Niveau ist eben die Grundlage, die jede Kritik wagen läßt.
Dies alles nun erschien mir Poesie, ein gemeinsam gepflegter, großer Garten mit den verschiedensten Fruchtbäumen darin. Aber in Deutschland scheint einem der Poet fast immer mit einem Unglück verbunden, er ist der unglückselige Ausnahmefall, über den die Normalität siegen darf; die sogenannte Normalität, die ja in Wirklichkeit undiskutierbar mittelmäßig ist, und eben darum unbesiegbar, man stösst auf Gellerte und nicht auf Jules Janins.
Der große Beifall, den Rilke auch bei Lebzeiten genoß, ging, abgesehen von der Jugend, vornehmlich von Aristokraten und reichen Leuten aus, die weniger den Befehl eines Dichters hören wollten, als von ihm in das Reich der Schönheit entführt werden. Diese Kunstbegeisterung, hier als Ganzes genommen, war der feinste Luxus, den verwöhnte Leute sich kauften mit etwas besserem Geld. Rilke selbst rettete seinen Kern, sein Werk, – und hat schließlich mit seinem schweren standhaften Tod beispielhaft bezahlt.

Am 2. Januar ds. Jahres 52 jährte sich zum 25. Mal Rilkes Begräbnistag. Kein Wunder, daß sich die Feiern für ihn überall auftaten. Die Rilke-Ausstellung in Paris hätte ich wohl gerne gesehen. In der Bibliothek Ste. Genéviève, von der Leiterin Marie Dornoy vorbereitet. Ich folge hier dem Bericht der Neuen Literarischen Welt vom 10. Januar diesen Jahres. Insbesondere widmete sich diese Ausstellung wohl Rilkes Beziehungen zu Frankreich, doch kam auch manches andere zu Wort. Viele Photographien die Freunde betreffend, Rodin, Gide, Valéry, – Rilke nach den russischen Reisen im Russenkostüm, viele Aufnahmen seines Turmschlösschens Muzot, auch von den Innenräumen, zuletzt der Friedhof und das Grab. „Einzigartig,“ so sagte die Zeitung, „einzigartig das Portrait, das Loulou Albert-Lazard 1916 in Rodaun bei Hofmanstal von Rilke schuf, und ihr Gemälde von seiner Grablegung.“ Zum Schluß heißt es: „In dem großen literarischen Kreis, der sich zur Eröffnung zusammenfand, waren auch alte persönliche Freunde anwesend, wie Loulou Albert-Lazard, Jules Supervielle und Hausenstein mit Gattin, deren Trauzeuge Rilke einst gewesen ist.“
Seltsam, nach so langer Zeit klingen noch einmal die gleichen Namen auf, – als Lebende. Was ist Zeit? Man pflegt sie gewöhnlich als etwas Materielles zu empfinden mit ihrem irdisch so raschen Verlauf, aber andererseits kann diese verfließende Zeit doch die ganz übermaterielle Meisterin sein, die das Wesentlichste zusammenschiebt und überraschend neu dicht nebeneinander stellt; längst Vergangenes ganz dicht neben das Heutige. Loulou Albert, wie mag sie jetzt ausschauen? Wie lange ist es her, daß ich sie sah. Vielleicht ähnelt sie der spanischen Alabasterpuppe, diesem durchsichtig-pompösen Wesen, das ich aus Spanien mitbrachte und das Loulou so entzückt durch die Straßen Laubachs trug. Ihrer Erscheinung war wirklich etwas von der Haltbarkeit zu eigen, die die Rokokodamen ohne Übergang in ihr gemaltes Bildnis übergehen ließ. Ihr Kostüm verschlang gleichsam ihren Tod; dergleichen berührt wohl den Ursprung jeder Maskierung.
Das letzte Mal also sah ich Loulou in den Unglücksjahren Deutschlands. Sie besuchte uns mit ihrer Tochter im Auto oben auf unserem Berg in Laubach, auf dem Weg nach China. Es war ein seltsamer Besuch, voll unmittelbarer geistvoller Laune und verhängter Melancholie. Die Künstler verderben sich nicht so leicht eine Gegenwart. Älter war sie geworden, aber in dem vorgenannten Sinn auch wieder nicht. Rührend war mir (wie ja manches an ihr rührte) daß sie ihre Brille vergaß mitzunehmen bei der Abfahrt. Wir sahen sie noch etwas suchen, sie sagte aber nicht was es war. Als wir dann später die Brille fanden, gehörte es ganz zu ihr, daß sie verschämt sich zu diesem Zeichen des Alterns nicht hatte bekennen wollen. Mir tat der Verlust für sie leid; auf der Reise schafft sich dergleichen nicht immer leicht wieder an. Aber die Repräsentation, das Decorum ging der Künstlerin Loulou immer vor!
Dieselbe Zeitung nimmt aus dem „Inselschiff“, aus dem Begräbnisjahr 27, Corrodis Schilderung der Totenfeier in Raron. Wie viele Berichte habe ich seitdem darüber gelesen und auch gehört! Immer wieder ergreift es. Und da ich nun selbst mit meiner Schwägerin im Jahre 1938 die Kirche von Raron und Rilkes Grab aufsuchte, auch das Schloß Muzot, trug es viel zu dem Eindruck des schauenden Erlebnisses bei, zu wissen, was sich hier an jenem Wintertag abgespielt hatte. Wie hart die Arbeiter das Grab aus dem vereisten Boden schaufeln mußten an der Außenwand der Kirche, das Versenken des Sarges, die stille Messe, und die Geige der Alma Moody, die offenbar wunderbar erklang. Diese Begräbnisfeier war für mich, so wie ich sie vernahm, bereits der Anfang einer Legendenbildung. Rilkes Bild und Leben, und mag es auch den Heiligen nur bildlich nachgelebt sein, wird als Legende in die Geschichte eingehen. Rührend habe es gewirkt, so sagt Corrodi, wie die Dorfkinder die schweren Kränze in frostblauen Händen während der langen Feier so hochhielten, daß sie die Erde nicht berührten. Keine Seele von Raron hat des Dichters Werke gelesen, aber die Ehrfurcht, die diese Stunden schufen, war eine Volksverbindung, die es garnicht mehr häufig gibt. Rilke blieb schöpferisch über seinen Tod hinaus.
Nun kann ich kurz nur Bild an Bild reihen, wie es bei jenem Novemberbesuch in mich einfiel. Das Wetter war schön, der Weg, den wir hinaufstiegen zu der Kirche, wurde uns von einem Zug weißer Ziegen gewiesen, die uns begleiteten. Der Blick auf die große Berglandschaft ringsumher war unsagbar schön. Dieser Blick in das Wallis damals hat meine Sehnsucht nach mächtiger Landschaft, – die uns einzig durch äußere Umstände oft so ewig ferngerückt wurde, noch sehr verstärkt.
Die kleine Kirche in ihrer beherrschenden Lage und die wohl immer geschmückte Grabstätte mit ihrer Tafel, – es konnte fast wie ein Wiedersehen sein, da man so viele Abbildungen geschaut hatte, und war doch ein unmittelbar ganz neuer eigner Eindruck. Die Grabtafel mit dem Spruch der Rose darauf, der von ihm erwählten Blume, schien mir wie ein Gesicht, das mit stummer Erwartung in die Ferne blickte.
Wir pflückten Efeu vom Grab, wir wanderten auf den kleinen Friedhof auf der anderen Seite der Kirche, und grade dieser Besuch bestätigte mir wieder, dass Abbildungen, schöne Photographien, etwas sehr Schönes sind, wenn sie uns an etwas eigen Geschautes erinnern. Aber ein selbstständiges Erlebnis bringen sie kaum zu Stande.
Das ist tröstlich, denn auch daran erkennt man die Unersetzlichkeit der Kunst, für die das Motiv nur ein Vorwand ist, und die mit ihrem einmaligen Erfassen einer Vision über alle sinnlichen Trennungen der Anschauungen hinweg sich mit unserem eignen einmaligen Erfassen in unbenennbarer Sphäre trifft.
Am nächsten Tage also suchten wir Muzot auf, ein langer sehr schöner Spaziergang dorthin. Eine Pappelallee in einem breiten, von den Bergen dennoch wie verdüsterten parkähnlich bepflanzten Tal, – Südfrankreich, – die Rhône! Als wir den Turm Muzot, der vollkommen einzeln in der Landschaft steht, erreicht hatten, war das Gartetor verschlossen. Die Verwalterin des Hauses, Fräulein Baumgartner, kam zu uns heraus: Herr Reinhart, der Besitzer, habe das Betreten des Turmes verboten, der Zustrom der Besucher sei zu groß geworden. So nahmen wir Schlösschen und Umgebung in uns auf, und gingen niedergeschlagen zurück; ich überlegte, was dennoch zu tun sei. Die Brüder Reinhart, die großen Kunstfreunde, waren in Winterthur zu Hause, Gubler, mein alter Freund von der Frankfurter Zeitung her, gleichfalls; er besaß ein Traubengut dort. Vielleicht ließ sich da etwas machen.
Meine Schwägerin Frieda telefonierte also nach Winterthur, mit ihrem Schwyzer Dütsch, die zwitschernde Stimme der reizenden Frau Gubler antwortete sogleich. Das träfe sich gut, gerade wolle ihr Mann mit Reinhart ins Konzert gehen, – Werner Reinhart müsse an Frl. Baumgartner Nachricht geben.
Und so geschah’s. Am nächsten Morgen trat uns am Tor von Schloß Muzot ein anderes Frl. Baumgartner entgegen, voll herzlicher Freundlichkeit. Herr Reinhart habe ihr Bescheid gesagt. Und nun blieben wir den ganzen Tag im Turm, wurden verpflegt wie Gäste, und konnten uns in voller Ruhe der Betrachtung hingeben; dazu hörten Frl. Baumgartners Berichten zu, die mit Rilke so viel Alltägliches treu geteilt hatte.
Es wurde nun ein langer Tag, d.h. reich ausgefüllt. Dennoch staune ich, wie viel mir von dem Gesagten bildlich entfallen ist. Keineswegs das Ganze, das mir heute deutlicher scheint als damals, aber das meiste der Einzelheiten.
Das sehr kleine Schlafgemach neben dem Arbeitszimmer, ein schmales Lager, fast wie an die Wand gepreßt, hatte wirklich etwas Klösterliches. Von meiner eignen Leiblichkeit aus vermute ich, daß dem Dichter doch oftmals der Aufenthalt unten in der Stadt, und in einem sehr schönen und anheimelnden Hotel, das er schätzte, eine köstliche Abwechslung gewesen sein mußte. Wir halten eine Einsamkeit dieser Art, zumal im langen Winter, ohne Zwang nur mit Unterbrechungen aus, und das echte Mönchsleben war etwas, das wir nicht mehr nachmachen können, falls wir nicht hineingeboren u. darin festgehalten wurden. Im alten Deutschland der ungerodeten Wälder mag es recht anders gewesen sein. Die Mönche von Kloster Arnsburg in Laubachs Nähe, die dazumal das Gelände urbar machen mußten, sie lebten hart und schmutzig für eine Schönheit in ferner Zukunft, sie wurden, so sagt die Chronik, kaum älter als 30 Jahre, Schlaf und Speise wurden aufs Äußerste beschränkt. Wer könnte das heute noch – allein – verwirklichen? Es gehört der Glaube, über Jahrtausende hinweg, einer großen unsichtbaren Gemeinde dazu, um das Denken, die Reflexion, das Ichleben auszulöschen. Und doch hat gerade Rilkes Versuch, eine heute scheinbar unmöglich gewordene Schönheit einer gottseligen Armut wieder lebendig zu machen, etwas offenbar Unvergeßbares in uns erweckt, so sehr sitzt uns Kindern des gottlosen 19. Jahrhunderts die Sehnsucht nach selbstloser Hingabe über den Tod hinaus doch im Blut, einer Hingabe an den Kommunismus des Heiligen Franz. Blumen und Tiere, sie gehören zur Schönheit der Armut, mit ihnen zu leben war gleichfalls ein Luxus, das mussten die armen Grossstädter vergessen.
– Auf dem Schreibtisch lag aufgeschlagen das Fremdenbuch, darin naturgemäß viele bekannte und auch hochberühmte Namen. –
Kostbare Gegenstände leuchteten hier und dort im Haus, ohne Aufdringlichkeit, nicht nur in der winzig kleinen Kapelle im Erdgeschoß. Es erinnerte mich das, nur in vollkommen verwandelter Form an Le Corbusiers hoch zeitgemäße Wohnung in Paris. Wie sehr hatte es mir in dieser neuspartanischen Mansardenwohnung in Noeully gefallen, dass nicht, wie in den gewohnten überfüllten Bürgerhäusern ein gekaufter Gegenstand den anderen auslöscht, ohne innere Verwandtschaft dieser Gegenstände untereinander. Fast immer fehlte diesen Wohnungen der Gesamtgeist, – anders benannt: die Atmosphäre. –
Auch bei Corbusier war es kein Ästhetentum; es war ein Ganzes mit seiner Wertskala, eingefangen zu einer Harmonie, die wortlos belehrte. Die Steigerung etwa von schlichten Möbeln zu einem einzelnen Kunstwerk. Die Griechen, so heisst es, hatten zum Spott der Römer simple Privatwohnungen, Hausfassaden zur Straße hin, die nicht auffielen; ihre Gäste schliefen auf den Bänken an der Wand, und ihre Kunstschätze trugen sie in den Tempel, wo alle sie sehen konnten, auch das Volk. Im Grunde das Gleiche wie hier, die Steigerung von der „Verneigung zur Anbetung“. Mir scheint dieser Gedankengang nicht gesucht, das Primitivste und das Seltenste waren beieinander, und der Geschmack der Beschauer wurde gefühlsmäßig geführt und verfeinert. Gefühlsmässig anspruchsvoll gemacht! Ist es nicht ein Unglück für ein Volk, wenn der einfache Mann das erlesen Schöne nicht mehr unterscheiden kann, dass zur Ehrfurcht zwingt, und glücklich macht auch außerhalb des eigenen Besitzes? Wie unzureichend erscheinen einem zumeist die Wege, die eine Allgemeinbildung und Volkseinheit erzwingen wollen.
Der Bau Muzot stammt aus dem 13. Jahrhundert, die Möbel z.T. aus dem 17., über die Geschichte des Gebäudes gibt es eine kleine Literatur. Eine musterhafte Ordnung schien hier schon zur Tradition geworden, Rilke war ja ein Mann äußerster Geordnetheit. Schon allein dies war mir damals in München wie ein Geschenk von ihm, daß mir das „Ordentlichwerden“ wieder begehrenswert schien, wenn auch vielleicht nicht mehr erreichbar. Die eitle Pflege häßlicher Inventare, die es nur auf Bewunderung des Nachbarn absah, hatte mir den Begriff einer Ordnung weitgehend verleidet. Ja die Zerstörung, die wir dann erlebten, scheint mir als Schrecken gemildert durch die Idee, wieviel Sinnloses und Halbgutes auf diese Weise doch auch verschwunden ist. Aber wer weiß, ob es aus der Verfassung der Seelen der Menschen nicht noch einmal geboren werden wird; ein Qualitätsgefühl neu zu züchten könnte jetzt fast zu einer religiösen Aufgabe werden! Zur nächsten Aufgabe auch der Schulen!
In eine mittelalterlich bewahrte Wohnung wie diese konnte jeder Pilger, ob König oder Bettler, unverschüchtert und ohne Neid eintreten. Die Entrées der meisten Prunk-Villen ehemals, aber enthielten sie nicht für jeden Armen sogleich den Satz: Der hier ist reich, und du bist es nicht!? – Wie weit waren wir von jeder bindenden Schönheitsidee abgekommen, und wie harmlos sprechen noch immer die Massen dieses Wort „Weltfrieden“ aus – als ob er ein Los sei, das man aus der Urne ziehen und gewinnen kann. So wie wir da sind, bauen wir ihn noch nicht.
Frl. Baumgartner erzählte so manches Interessante aus dem Gesichtskreis der guten Hausverwalterin heraus. Sie brachte Schnaps, den sie und Rilke gemeinsam gebraut hatten. Sie bewirtete uns mit netten kleinen Mahlzeiten. Meine Schwägerin und sie plauderten melodisch im Landesdialekt, und ich, ich war glücklich und zufrieden, ja, ich schwelgte geradezu in diesem seltenen Tag. Wie dankbar hat man immer für das seltene zu sein! Jetzt eigentlich fiel mir erst ein, was Regina Ullmann, Valéry, so mancher Geistesfreund über diese Räume, diese Landschaft geäußert hatten. Rilkes Verehrer, seine dankbaren Freunde, hatten ihren Anteil an dieser Harmonie. Er hatte nicht zu den verbannten Dichtern gehört, dazu war der Kontrast seines höchst eigenartigen Werkes allzu erwünscht gewesen für eine erstaunlich banal gewordene Welt. In diesen Glanz wünschte mancher zu treten, dem das Grau des Alltags unerträglich geworden war. Und nochmals. Diese wundersame Ordnung ohne jede Pedanterie – Regina sagte in dem kleinen Nachrufbuch „Stimmen der Freunde“ (sie gehörte zu den Betreuern des Nachlasses,): „Alle Briefschaften lagen in einer schweren Eichentruhe, alphabetisch geordnet und zu kleinen Bündeln straff zusammengebunden. Jedes Ding war durch eine kleine Notiz seiner Bestimmung und Zugehörigkeit zugeführt und kenntlich gemacht. Nur die Teppiche lagen zusammengerollt, die Möbel verhängt, und die Vorhänge herabgelassen. ….wie vor einer großen Reise. Ob Rainer Maria sie als seine letzte erachtete, hat er nicht ausgesprochen.“ In diesem Zustand verließ Rilke ( vielleicht zu einem Sanatoriumsaufenthalt) zur Zeit seines zweitletzten Geburtstages den Turm.
Ein schöner sonniger Novembernachmittag. Wir gingen in den Garten. Die noch vorhandenen Blüten schon frostig, dennoch schnitt Frl. Baumgartner mir alles ab, was noch an Blüten vorhanden war, – zum Andenken. Ich aquarellierte dann in Bern diesen Rosenstrauß, um ihn mir wenigstens in Form zu bewahren. Beim Malen nahm ich die Blüten einzeln ernsthaft in mich auf; Rilke soll besonders schöne Sorten gewählt haben. –
Der Heimweg wurde bedeutend fröhlicher als der am vorigen Tage. Und welch eine Gunst des Schicksals war es auch gewesen, daß wir nicht mit einer Schar fremder Besucher zusammengetroffen waren!
Jetzt soll der Turm nun gänzlich unbetretbar geworden sein. Der Besitzer, Herr Reinhart, soll ihn sich als Sommerwohnung eingerichtet haben, – auch die hygieneischen Bequemlichkeiten, so das Badezimmer, sie fehlten nicht mehr. Dies hier aber nicht absprechend vermerkt, denn ein jeder Zustand steht unter dem Gesetz der Verwandlung und eine echte Verwandlung zeugt am besten für die Schönheit des Vergangenen.
Wir sprachen auf dem Heimweg noch über den traulichen Begriff der „Klause“. Der Hieronymus von Dürer stand dem Ideal der Rilkeschen Wohnung nicht einmal fern, wenn auch der Löwe des Hieronymus unsichtbar geworden ist. Natürlich gedachte ich auch noch einmal der Klause meines Meisters Flaubert in Croisset bei Rouen. Auch dieser Besuch – 1913 – wurde damals zu einem unvergesslichen Tag. Flauberts sechseckiger Arbeitstempel am Ufer der Seine, nächtlich der Leuchtturm für die Schiffer; – die Seine an dieser Stelle breit wie ein See. Ein paar Stunden lang konnte ich ganz allein die Originalmanuskripte durchblättern. Aber jenes Zimmer mit dem Blick auf die roten Segel auf dem Strom hatte nichts von planmässiger Schönheit. Die Bilder an den Wänden waren Erinnerungsbilder, die Gegenstände auf dem Schreibtisch Gaben des Herzens. Hier herrschte die Wärme des Gefühls, die einfache Pietät hielt an einer Altbürgerlichkeit fest, die noch nicht entgleist war. Flaubert hatte sich gleichsam diesen Raum von Frauen, seiner Mutter und seiner früh verstorbenen Schwester einrichten lassen, er gehörte nicht zu seinem Werk. So objektiv streng geformt uns sein Werk erscheint, so heiß schlug hier ein menschliches Herz. Rilke liebte Flaubert. Und Ernst Jünger liebt Flaubert, und ersehnt eine Neuausgabe seiner unvergleichlichen Briefe. Noch einmal! Wie schön ist doch die Freundschaft der Geister, die untereinander nur wünschen, daß der Andere ganz er selbst sei oder werde, und nur darin ohne Falsch sein kann, zu dem, was wir Menschheit nennen.