Literarische Kultur in Gießen: das 19. Jahrhundert von ROLF HAASER
Literarische Kultur in Gießen: das 19. Jahrhundert
von ROLF HAASER
Literarische Kultur und kulturelle Identität: Eine polemische Vorbemerkung
Einigermaßen niederschmetternd ist das Urteil, das Berndt Schulz und Heidrun Merk in ihrem vor Kurzem erschienenen Reiseführer für Hessen über das Erscheinungsbild Gießens fällen.1 Die Autoren vertreten die Ansicht, daß die Stadt nicht gerade als schön zu bezeichnen sei, weil sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu schnell und planlos wiederaufgebaut worden sei. Die als Fußgängerzone genutzte Innenstadt sei zwar, wie in anderen Städten auch. auf nichts anderes eingestellt als auf Kaufen und Verkaufen, doch zeichne sich Gießen dadurch vor anderen vergleichbaren Städten aus. daß hier keinerlei Anstrengungen unternommen würden, von dieser Tatsache abzulenken. „Man spürt“, so heißt es in dem Reiseführer weiter, „die Mixtur aus Arbeiter- und Kleinbürgermilieu plus Konsumgroßzügigkeit. die hier nebeneinander existieren, aber keine Verbindung eingehen.“ Die wenigen erhalten gebliebenen Hauser seien lediglich geeignet, eine Atmosphäre von angerußter frühkapitalistischer Industriekultur zu erwecken, diese stehe in einem offenen Kontrast zu der die Innenstadt beherrschenden Kaufhausarchitektur, und dieser Stilbruch verleihe der Stadt ein unverwechselbares Gesicht. Das gesamte Zentrum mache den Eindruck, „als müsse hier soziale Brisanz erheblich abgefedert werden'“.
Den Autoren des Reiseführers vermittelt die Stadt einen Eindruck, als befinde sie sich in einem permanenten Planungsstadium, und besonders durch das Imbißbudenmilieu um den Bahnhof herum, mit seiner Mischung aus Aufbruch- und Abrißstimmung. fühle sich der Besucher der Stadt unwillkürlich in DDR-Zeiten zurückversetzt. In Gießen täusche nichts darüber hinweg, daß eine moderne Stadt aus Beton bestehe, weshalb hier die Menschen, mangels anderer Schönheiten, die Hauptdarsteller seien.
Immerhin hält der Reiseführer neben den Menschen auch noch einige Museen für sehenswert, und man könne, „wenn man mit dem Kulturführcr vor der Nase das übrige Gießen ausblendet“, sich sogar über einzelne historische Baudenkmäler wie das Leibsche Haus oder die Burgmannenhäuser in der ehemaligen Wasserburg freuen.
Es ist hier nicht der Ort, darüber zu diskutieren, inwieweit dieser Befund dem Erscheinungsbild der Stadt tatsächlich gerecht wird. aber man kommt an dem Sachverhalt nicht vorbei, daß es der „Kulturstadt an der Lahn“ ganz offensichtlich nicht recht gelingen will bzw. bislang nicht gelungen ist, ihre kulturelle Identität transparent werden zu lassen. Welches aber sind die Gründe für das problematische Verhältnis zwischen objektiv guten kulturellen Bedingungen und subjektiv konstruiertem Negativimage der Stadt und wie kann diesem krassen Mißverhältnis entgegengewirkt werden?
Eckhard Dommer und Erich Schmidt haben in ihrer richtungsweisenden Studie über das Auseinanderfallen von Image und Realität der Stadt auf das für Gießen symptomatische Spannungsverhältnis zwischen der Suche nach verlorener Identität und aktiver Gestaltung einer modernen Stadt aufmerksam gemacht.2 Diese empirische Studie der beiden Gießener Politikwissenschaftler gelangt zu der Einschätzung, daß das Ende des zweiten Weltkriegs einen einschneidenden Traditionsbruch bedingt habe, der durch die darauffolgende dynamische Modernisierung und die Übernahme der anglo-amerikanischen demokratischen Kultur sowie der amerikanischen Populärkultur nicht ausgeglichen werden konnte. Besonders die seit Mitte der siebziger Jahre immer deutlicher ins Bewußtsein tretende Krise des Fortschrittsglaubens lasse die fehlende Verankerung in die kulturellen Traditionen zunehmend als persönlich erlebtes Traditionsdefizit erscheinen.
in einem im Frühjahr 1996 erschienen Aufsatz3 gehen die Autoren in ihren Schlußfolgerungen insofern noch einen Schritt weiter, als sie die Wiederaufdeckung verschütteter Traditionslinien des Kulturlebens der Stadt und ihres Umlandes zur Selbstvergewisserung der eigenen kulturellen Identität für dringlich erachten. Diesem Postulat ist unumwunden beizupflichten. Vor allem was das literarische Leben in Gießen anbelangt, herrscht eine auffallende Lücke im kollektiven Gedächtnis der Stadt. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als möglicher Beitrag zu dem Versuch, dieses Defizit zumindest ansatzweise abzubauen.
Als das Institut für neuere deutsche Literaturwissenschaft der Justus-Liebig-Universität in den Jahren 1988 bis 1993 den Anteil der oberhessischen Literaturgeschichte an der kulturellen Identität der Region in einem vom Hessischen Wissenschaftsministerium geförderten, sogenannten Landesforschungsschwerpunktprojekt untersuchte, stellte sich sehr schnell heraus, daß im Gegensatz zu vergleichbaren Nachbarstädten wie Marburg und Wetzlar in bezug auf das literarische Leben in Gießen noch nicht einmal die Vorstellung einer einigermaßen kohärenten Traditionslinie auffindbar war. Das Fehlen eines Bewußtseins von einer eigenen literarischen Tradition wäre nun angesichts des relativen Mangels an repräsentativen Literaturwerken. die mit der kulturellen Identität der Stadt Gießen in Beziehung stünden, nicht besonders verwunderlich gewesen. Was die an dem Forschungsprojekt beteiligten Literaturwissenschaftler allerdings frappierte. war eine in dieser Form nicht erwartete Fülle literarhistorisch nicht uninteressanter, weitgehend unerforschter Materialien und Strukturen eines, wenn auch nicht repräsentativen. so doch charakteristischen Gießener Literaturlebens. besonders für den Zeitraum der letzten drei Jahrhunderte.
Vorauszuschicken ist an dieser Stelle, daß sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein bemerkenswerter Strang der neu aufkommenden nationalen Literaturgeschichtsschreibung herausschält, dessen Grundzüge in Gießen entwickelt werden und als dessen Kernstücke die literarhistorischen bzw. kulturgeschichtlichen Arbeiten Joseph Hillebrands. Georg Gottfried Gervinus‘ und Moriz Carrieres zu benennen sind. Diese umfangreichen und äußerst materialreichen Studien, die sehr stark voneinander abhängen und aufeinander aufbauen, zahlen zu dem bedeutendsten, was die damals noch junge Wissenschaft zu Tage förderte. Es läßt sich also, ohne zu übertreiben, reklamieren, daß es Gießener Literaturwissenschaftler waren, die einen erheblichen Beitrag zur Poetologisierung und Systematisierung der deutschen Nationalliteratur geleistet haben. Ironischerweise sind es aber gerade die ästhetischen und poetologischen Kategorisierungsmuster dieser Literatur- und Kulturgeschichten, die den Anlaß dafür gaben, daß sich in der Folge die Literaturwissenschaft traditionell primär mit literarischen Gipfelleistungen bzw. mit dem, was sie dafür jeweils gehalten hat. beschäftigte. Das literarische Leben von Epochen, Regionen oder auch literarischen Einzelgängern, deren schriftstellerische Produktionen als ästhetisch minder wertvoll angesehen waren, ist dabei im Schlagschatten einzelner ‚Dichter-Heroen‘ weitgehend unbeachtet geblieben. Die Aufgabe, das Gedächtnis an die bloß regional bekannt gewordenen Schriftsteller zu wahren, hat die Literaturwissenschaft noch bis vor kurzem weitgehend den Heimatforschern, Gemeindepfarrern und Lokalhistorikern überlassen, die sich überwiegend einem in der deutschen Kulturtradition dominierenden ästhetisierenden Dichtungsbegriff verschrieben hatten. Das halle zur Folge, daß oppositionelle und politisch unbotmäßige Schriftsteller häufig verkannt oder schlicht totgeschwiegen wurden, daß literarische Außenseiter und Randgänger dem Verdikt anerkannterer Schriftstellerkollegen oder Literaturkritiker anheimfielen und in Vergessenheit gerieten usw. Diesem gerade auch für die mittelhessische Kulturlandschaft charakteristischen Mangel gilt es zu begegnen. Die vorliegende Studie basiert auf den in dem erwähnten Forschungsprojekt zugrunde gelegten Beschreibungskriterien, die die Frage nach der ästhetischen Relevanz zugunsten einer Analyse der kommunikativen Intentionen und der Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Realisierung zurückstellten. Die Beschreibung des Gießener literarischen Lebens im 19. Jahrhundert erscheint daher im folgenden in der integralen Perspektive einer Kommunikationswissenschaft, die neben literarischen und publizistischen Aspekten im engeren Sinne auch soziale, ökonomische, technische, politische, psychische und diskursgeschichtliche Faktoren berücksichtigt.
Auch wenn das Thema des vorliegenden Beitrages unter der Auszeichnung einer zwar nicht repräsentativen, gleichwohl aber charakteristischen Gießener Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts entfaltet wird. so fehlt es gleichwohl nicht an Schriftstellern, die zu den bedeutenderen Vertretern der deutschen Literatur zu rechnen sind. Namen wie Ludwig Börne, August Adolf Ludwig Follen, Georg Gottfried Gervinus, Georg Büchner, Moriz Carriere, Karl Hillebrand, Ernst Eckstein und Alfred Bock haben auch in der überregionalen Literaturgeschichtsschreibung eine z.T. nicht unbeträchtliche Resonanz gefunden. Sie ragen aus der Masse der weniger bedeutenden Gießener Schriftsteller heraus, prägen das literarische Profil ihrer jeweiligen Schriftstellergeneration und markieren die Schnittstellen der spezifischen Literaturentwicklung der Stadt. An den Bedingungen und Auswirkungen ihrer Literaturproduktion hat sich daher auch der Gang der Darstellung zu orientieren.
Ludwig Börne und die Schriftsteller der Rheinbund-Ära
Das beginnende 19. Jahrhundert ist in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht von einer starken Strömung des Umbruchs gekennzeichnet, die sich aus den Entwicklungen herleitete, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, durch Französische Revolution und durch die daran anschließenden Koalitionskriege gegen Frankreich eine weitgehende Umordnung der gesellschaftlichen Weltverhältnisse und im Zusammenhang damit eine tiefgreifende Neuformierung des politischen Denkens hervorgebracht hatten.
Diese das öffentliche und private Bewußtsein der Zeit prägende krisenhafte Struktur vermittelte den Eindruck einer rapiden Beschleunigung und Veränderung der persönlichen Existenzbedingungen und wurde daher von vielen Zeitgenossen als bedrohlich empfunden. Die alltägliche lebensweltliche Erfahrung signalisierte immer eindringlicher, daß die philosophischen und ästhetischen Konzepte der zunehmenden Divergenz der Welt nicht mehr gerecht werden könnten, ja der Verdacht, die Errungenschaften des Wissens könnten gerade selbst an der Bewußtseinskrise schuld sein. führte dazu. daß die Jahrhundertwende als Epochenschwelle wahrgenommen wurde.
Auch die Bürger der Stadt Gießen durchlebten in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende eine unruhige Zelt. im Verlauf der Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich hatte die Festung mehrmals unter französischer Kommandantur gestanden, und Kriegstruppen unterschiedlichster Couleur hatten nacheinander ihr Quartier in und um Gießen genommen und die Bürgerschaft in Atem gehalten.
Während der Rheinbundzeit wurden dann, etwa durch Gebiets- und Verwaltungsreformen, Vorkehrungen getroffen, die auf eine grundlegende Umgestaltung der l Lebensbedingungen hinausliefen. Zu Beginn des Jahrhunderts fand sich in Gießen eine Generation von jungen, meist zur Zeit der Französischen Revolution geborenen Schriftstellern, deren literarische Laufbahn durch die spezifischen Bedingungen dieser unter dem politischen und kulturellen Hinfluß Frankreichs stehenden Epoche geprägt war. Gemeinhin galt und gilt die Zeit der napoleonischcn Fremdherrschaft in Deutschland als eine der Literaturproduktion feindliche Epoche, die durch Zensur und Unterdrückung freier Meinungsäußerung, durch Beschränkung der Strukturen des kulturellen Lebens, durch das Darniederliegen des Buchhandels usw. gekennzeichnet sei. Vor allem die nach der Zerschlagung der französischen Vorherrschaft entstehende nationale Literarturgeschichtsschreibung kennt daher auch einen Begriff wie ‚Rheinbundliteratur‘ nicht. Gleichwohl ist ein solcher Begriff für die Beschreibung des Gießener Literaturlebens in der Zeit vor 1814 vonnöten, denn die vielfältigen literarischen Produktionen von Autorinnen und Autoren wie Börne, Fresenius, Sophie Tasche, Schenck und Baur belegen, daß ein durchaus reges und lebendiges, z.T. sogar erst unter den spezifischen Bedingungen der Rheinbundzeit möglich gewordenes Literaturleben zu verzeichnen ist.
Das 19. Jahrhundert hat eine ganze Reihe von Schriftstellern hervorgebracht, deren intellektuelle Sozialisation und literarische Karriere durch einen zeitweisen oder dauerhaften Aufenthalt in Gießen wesentlich geprägt wurde. Unter denjenigen von ihnen, denen es gelang, sich in der literarischen Welt einen gewissen Rang zu sichern, ist zunächst der Erzähler und Essayist Ludwig Börne (1786-1837) zu nennen, der mit seiner satirischen Erzählprosa wie mit seinen dramaturgischen und zeitkritischen Rezensionen sich den Ruf eines der brillantesten deutschen Humoristen und Feuilletonisten erwarb und eine moderne, für das 19. Jahrhundert stilbildende Schreibweise entwickelte.
Er wurde als Juda Löw Baruch am 6. 5. 1786 als Sohn eines aus Hoffaktorenkreisen stammenden jüdischen Wechselmaklers im drückenden Milieu des Gettos in Frankfurt am Main geboren, dessen Gemeinde durch ein bis auf das Jahr 1616 zurückzuführendes Judenstatut unter Entbehrung der Bürgerrechte durch einen ausführlichen Katalog von Verboten und Vorschriften reglementiert wurde. In dieser Umgebung verbrachte Baruch die ersten vierzehn Jahre seiner Kindheit, in der sich bereits der seinen literarischen Stil kennzeichnende provokative Witz und Scharfsinn in einem früh entwickelten Widerspruchsgeist gegen die demütigende Judenpolitik der Stadt Frankfurt entwickelte. Der junge Baruch hatte zunächst in Frankfurt eine strenge rechtgläubige Erziehung genossen, bevor er im Jahr 1800 zur Erlangung einer allgemeinen Schulbildung in das Pensionat des Orientalisten Friedrich Hezel nach Gießen geschickt wurde. Zu dem liberalen Milieu, in dem der junge Baruch sich während seines ersten Gießener Aufenthaltes bewegte, trugen neben seinen Lehrern Hezel und A.F.W. Crome auch die Ehefrau Hezels. die Schriftstellerin Henriette Hezel bei. die u.a. die erste Herausgeberin einer Frauenzeitschrift in Deutschland und Initiatorin einer Frauenlesegesellschaft in Gießen war. Über die Stationen Berlin, Halle und Heidelberg, wo Baruch zunächst Medizin und dann Staatswissenschaften studierte, kehrte er 1808 nach Gießen zurück, wo er bei seinem ehemaligen Lehrer Crome zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Die im Zusammenhang mit seinen staats– und kameralwissenschaftlichen Studien entstandenen Aufsätze wurden z.T. in der „Minerva“ von Archenholz und in Cromes Rheinbundzeitschrift „Germanien“ veröffentlicht. Die in der Börne-Forschung wenig beachteten und meist milde belächelten Schriften sind allerdings für die literarische Sozialisation Baruchs höchst aufschlußreich, zeigen sie doch den interessanten, wenn auch problematischen Versuch des Kameralistikstudenten, die der Tradition der Aufklärung verpflichtete empirische Statistik, deren Hauptvertreter in Deutschland damals Crome in Gießen war, mit den romantischen Elementen zu verbinden, mit denen er in Halle und wohl auch in Heidelberg in Verbindung getreten war. Immerhin war die Studie „Über die geometrische Gestalt des Staatsgebietes“ politisch brisant genug, um einen Ernst Moritz Arndt noch nach dem Zusammenhruch der Rheinbundstaaten zu einer ausführlichen Widerlegung zu veranlassen.4 Was Arndt an Baruchs Staatskörpermodell störte, war die Konsequenz mit der der Gießener Kameralistikstudent einen sich zunehmend konsolidierenden deutsch-französischen Kulturraum aus staatstheoretischcn Überlegungen herleitete. Die identitätsstiftende Wirkung eines deutsch-französischen Kulturaustauschs war auch eines der zentralen Themen Cromes während der Rheinbundzeit,5 und es ist daher einleuchtend, daß Baruchs Doktorvater nicht nur die kameralistische Arbeit in seiner Rheinbundzeitschrift veröffentlichte. sondern auch einen Teil seiner Aphorismensammlung. Damit kommt dem Gießener Professor das Verdienst zu, als erster Baruchs literarische Qualitäten erkannt und gefördert zu haben.
Baruchs Aphorismen, die zwischen 1808 und 1810 in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem zweiten Gießener Aufenthalt entstanden, sind als persönliche Dokumente zu verstehen, die. nicht ohne literarischen Wert. bereits das Charakteristische der Schreibweise des späteren Schriftstellers ankündigen. Als ein bunter Reigen spöttischer Einfälle und eigenwilliger Ideen, die Originalität im Ausdruck und sichere Ungezwungenheit im Urteil verraten, zeigen die Aphorismen Baruchs, daß diese literarische Gattung in der Tradition Lichtenbergs. Novalis‘ und Jean Pauls der eigentümlichen Stilbegabung des jungen Literaten entgegenkam und ein günstiges Feld publizistischer Vorübung bereitete. Unter den Aphorismen finden sich aufschlußreiche Ansichten über Literatur. Geschichte und Politik, die mit Reflexionen über die eigene Person ebenso abwechseln wie mit humorvollen Bemerkungen über menschliche Eigenschaften. Einzelne dieser Aphorismen sind als Erinnerungen an die Universitätszeit und als ironische Auseinandersetzung mit den Universitätslehrern als Zeugnisse der geistigen Entwicklung Baruchs von Interesse.
Baruchs geistiger Mentor Crome sah in seinem Schüler den prototypischen Vertreter einer Generation aufgeschlossener, junger Intellektueller, von denen er hoffte, daß sie die Modernisierungsangebote der veränderten politischen Verhältnisse nutzen und zur Konsolidierung einer kulturellen Rheinbundidentität beitragen würden. In dieser Hinsicht stand Crome in Einklang mit den kulturpolitischen Bestrebungen des Fürstprimas von Dalberg. dem zukünftigen Arbeitgeber Baruchs. Die an das Studium in Gießen anschließende berufliche Laufbahn als Poli-zeiaktuar in seiner Vaterstadt Frankfurt und möglicherweise auch noch sein literarisch-kulturelles Engagement in dem von Dalberg in seiner kulturpolitischen Bedeutung sehr ernst genommenen Frankfurter Museumsverein können als Indiz dafür gewertet werden, daß der junge Börne, zumindest bis zu seinem durch die Restitution der alten Ordnung durch den Wiener Kongreß verursachten Karrie-reknick, der ihm auch nicht durch einen Religions- und Namenswechsel erspart bleiben sollte, von Crome in hervorragender Weise auf sein praktisches Leben vorbereitet worden war.
Als nach dem Ende der Rheinbund-Ära der Senat der wiedererstandenen Reichsstadt Frankfurt die Amtsenthebung des Polizeiaktuars Dr. Baruch beschloß. halten auch bereits die kaum genossenen bürgerlichen Freiheiten der Juden Frankfurts der feudalen Restauration weichen müssen. Vergeblich war Baruchs Vater von der israelitischen Gemeinde auf den Wiener Kongreß abgesandt worden, um die Rückgängigmachung der Rechte zu verhindern, die sie unter dem Einfluß der französischen Gesetzgebung genossen hatte. Die Frankfurter Juden beschlossen daraufhin, den Rechtsweg zu beschreiten, und Rekurs beim deutschen Rundestag zu nehmen. Zu diesem Zwecke ersuchte der Vorstand der Jüdischen Gemeinde den jungen Baruch. eine „Aktenmäßige Darstellung des Bürgerrechts der Israeliten zu Frankfurt a. M.“ zu verfertigen, die er dann auch, einige Tage nach seiner Entlassung, verfaßte. Mit dieser juristischen und einer weiteren im Juli l816 verfaßten, stärker politisch-polemischen Schrift mit dem Titel „Die Juden in der freien Stadt Frankfurt und ihre Gegner“ trat Baruch noch einmal mit der Gießener Universität in Berührung, denn neben der Berliner juristischen Fakultät war auch die der hessen-darmstädtischen Landes-Universität. letztere sowohl vom Senat, als auch von der israelischen Gemeinde, um ein Rechtsgutachten gebeten worden. Während das von Savigny. dem Begründer der historischen Rechtsschule, verfaßte Gutachten der Verleihung der Bürgerrechte an die Juden durch den Fürstprimas von Dalberg für unzulässig erklärte, hielt das Gießener Gutachten an der unverändert bestehenden Rechtsgültigkeit der entsprechenden Verträge fest. Dieses bemerkenswerte Gießener Gutachten war ein Schlag ins Gesicht der Judengegner unter der Frankfurter Bürgerschaft. Anonym erschien eine Denkschrift, die die Gießener Fakultät mit einem Irrenhaus verglich, in dem die ohne alle rechtswissenschaftlichen Prinzipien urteilenden Rechtsgelehrten sich zum Affen der Juden herabgewürdigt hatten. Nur Verachtung verdiene solche sinnlose Beförderung des Judentums. die sich an der Ehre der deutschen Nation versündige.6 Das Gutachten zeigt, daß zumindest in Teilen der Gießener Gelehrtenkreise noch nach dem Ende des Rheinhunds jener politisch-aufgeklärte Geist sich hatte hallen können, als dessen Repräsentanten die Gießener Lehrer Börnes, Hezel und Crome, zu betrachten sind.
Ludwig Börne ist der bedeutendste, aber nicht der einzige Vertreter der Generation von Schriftstellern, die in Gießen unter den spezifischen Bedingungen der Rheinbund-Ära ihre literarische Sozialisation erfuhren. Neben dem Hofkammer-gerichtsadvokaten und Theaterstückautor Christian Karl August Algeier, dem Lokallyriker und Opernlibrettisten Karl Baur sowie dem Trauerspielautor und Gelegenheitslyriker Friedrich Schenck, auf die aus Mangel an Raum hier nicht weiter eingegangen werden kann. seien wenigstens die Erzählerin Sophie Tasche und der frühverstorbene Dramatiker August Fresenius kurz dargestellt.
Die literar-historischen Quellen über die erste Gießener Schriftstellerin im 19. Jahrhundert fließen nur spärlich, und es kann nur vermutet werden, daß Sophie Tasche aus der. wenn auch bescheidenen, literarischen Tradition der Frauen-Lesegesellschaft um Henriette Hezel hervorgegangen sein dürfte oder sich zumindest auf dem durch diesen Zirkel bereiteten Terrain bewegte. Sophie Tasche, die ausschließlich anonym oder unter dem Pseudonym ‚Sophie‘ veröffentlichte, war die Tochter des großherzoglich hessischen Geheimrats Hans Wilhelm Hoffmann, scheint also in geordneten bürgerlichen Verhältnissen aufgewachscn zu sein. Nach Schindel7 war sie die Ehefrau des Gießener Buchhändlers Tasche und betrieb unter eigener Regie ein Modegeschäft. Ihre Lebensdaten sind ebenso wie ihre näheren Lebensumstände unbekannt, und es gibt nur einen unsicheren Hinweis darauf, daß sie nach ihrer Gießener Zeit in Darmstadt gelebt haben könnte.
Lediglich für zwei Buchpublikationen ist die Verfasserschaft Sophie Tasches nachgewiesen. nämlich für die 1812 in Gießen erschienene „Reise ins Bad. Oder Gewalt der Liebe und des Zufalls“ und für die 1813 an gleichem Ort verlegte Prosa-Anthologie „Dichtung und Wahrheit. Erzählungen von Sophie“. Die Titel der in diesem Band enthaltenen vier Erzählungen: „Die Brieftasche“. „Das arme Hannchen, oder das Zeitungsblatt“, „Die Wallfahrt“ und „Die zerbrochene Schachtel“ deuten darauf hin. daß Sophie Tasche vor allem ein weibliches mittleres bis gehobenes Lesepublikum erreichen wollte. Eine Verwandtschaft ihrer Schreibhaltung zu Sophie La Roche, der ersten Erfolgsschriftstellerin Deutschlands, sollte dem Käufer durch das Pseudonym ‚Sophie‘ absichtsvoll suggeriert werden.
Eine der herausragen deren Dichterpersönlichkeiten der Rheinbundgeneration ist der Lyriker und Theaterautor August Fresenius8 (1789-1813). Der Sohn des hessisch-homburgischen Hofbeamten und Dramatikers Johann Christian Fresenius besuchte die Augustinerschule in Friedberg, bevor er ab 1811 in Gießen Theologie studierte, wo er nebenher auch als Hauslehrer tätig war. Während seiner Gießener Zeit machte er die Bekanntschaft Karl Theodor Welckers und schloß enge Freundschaft mit dem späteren Mitverfasser des „Hessischen Landboten“ Friedrich Ludwig Weidig. Nachdem das Interesse an den schönen Wissenschaften das Theologiestudium zunehmend in den Hintergrund gedrängt hatte, wechselte August Fresenius noch im gleichen Jahr auf die Universität in Heidelberg und lebte danach einige Zeit in seiner Geburtsstadt Friedberg, bevor er im Sommer 1813 als Schulrektor in Homburg vor der Höhe angestellt wurde. Wahrend seiner Studienzeit in Gießen und Heidelberg arbeitete er an einem Band „Gedichte“ (Darmstadt 1812). von denen auch mehrere im „Heidelberger Taschenbuch auf das Jahr l812“ erschienen, sowie an der literarhistorisch bedeutsamen Tragödie „Thomas Aniello“, 1818 in Frankfurt am Main als erster Teil der nicht weitergeführten „Hinterlassenen Schriften“ erschienen. Niemand geringerer als der romantische Dichter Friedrich de la Motte-Fouque widmete sich, auf Veranlassung von Heinrich Voss d. J. und unter Mithilfe von Karl Theodor Welcker, der Herausgabe der literarischen Hinterlassenschaft des bereits im Aller von 24 Jahren an „Nervenfieber“, so der offizielle Obduktionsbefund, verstorbenen literarischen Jungtalentes9 Einige verschlüsselte Hinweise auf eine tragischere Todesursache scheint Ludwig Börne anläßlich einer Rezension des „Thomas Aniello“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Wage“ geben zu wollen, indem er mit Blick auf Fresenius‘ frühen Tod betont, daß „die Witterung unserer Tage den Dichtern nicht günstig“ sei und gerade die lebendigsten, wie Kleist und Körner, „an der rauhen Luft der Wirklichkeit“ verdürben und verwelkten. Auch August Adolf Ludwig Follen ehrte das Andenken an den Früh verstorbenen, indem er einige seiner Gedichte in seine l823 veröffentlichten „Harfen-Grüße aus Deutschland und der Schweiz“ aufnahm.
Heinrich Voss d. J. verglich den jungen Dichter in einem Brief an Fouque mit einem „rohen Diamanten“, und Ludwig Börne schrieb ihm in der genannten Rezension des „Thomas Aniello“ „eine große, ob zwar noch wilde ungezähmte Kraft“, in der „ein hoher Shakespeare-Geist“ waltet, zu- Die Liebes- und Naturlyrik Fresenius‘ erinnert an die hochgestimmte Gefühlsdichte der Romanfiguren Jean Pauls, während seine Arbeit auf dem Gebiet des Dramas sich aus den literarischen Konventionen des Sturm und Drang herleitet.
Mit der Tragödie „Thomas Aniello“ behandelt Fresenius die historische Figur des in Neapel lebenden Fischers und Obsthändlers Thomas Aniello. genannt Masaniello. der 1647 der Kopf eines durch die Auferlegung einer Obststeuer ausgelösten Volks auf Standes gegen den spanischen Vizekönig Rodrigo Ponce de Leon. Hezog von Arcos. war und damit zum neapolitanischen Freiheitshelden avancierte. Für wenige Tage wurde die spanische Fremdherrschaft durch eine Art von Volkskönigstum abgelöst, an dessen Spitze Masaniello eine neue Gesetzgebung durchsetzte. Fresenius hält sich in der Dramatisierung des Stoffes weitgehend an die historischen Gegebenheiten, weicht allerdings in der Darstellung des Todes seines Titelhelden, der in Wahrheit von gedungenen Banditen erschossen wurde, insofern ab. als er ihn infolge von verabreichtem, aber nicht sofort wirkendem Gift mehr und mehr als vom Wahnsinn gezeichnet auf der Bühne sein schauriges Lebensende ausagieren läßt.
Als „Revolutionsstück eines jung verstorbenen, mit Weidig befreundeten hessischen Dichters““ wurde das Trauerspiel fälschlicherweise mehrfach Georg Büchner zugeschrieben. Hin Zusammenhang zu Büchner dürfte allerdings auf einer mittelbaren Ebene anzuschlagen sein, wobei Weidig als Studienfreund Fresenius‘ und späterem Mitstreiter Büchners die Vermittlerrolle zuzuschreiben ist. Ernst Theodor Voss spricht sogar von einer in Hessen eine Zeitlang existierenden Fresenius-Legende10. an der neben Börne auch der zum unmittelbaren Büchner-Umfeld zu zählende Wilhelm Schulz gestrickt zu haben scheint.
Im Zeichen der nationalen Befreiungs- und Demokratisierungsbewegung:
die Agitationsliteratur der Brüder Follen und ihres Umfeldes.
Das Jahr 1814 markiert die wohl tiefgreifendste Schnittstelle innerhalb der Geschichte des literarischen und kulturellen Lebens in Gießen, zumindest was das 19. Jahrhundert anbelangt. Bedingt durch die sich abzeichnende endgültige militärische Niederlage Napoleons und die damit verbundene Umstrukturierung der politischen Verhältnisse Mitteleuropas vollzog sich ein grundlegender Mentalitätswandel. als dessen literarisches Substrat die von einem ausgesprochen nationalen Pathos getragene Lyrik und politisch-polemische Publizistik der nationalen Befreiungs- und Einigungsbewegung anzusehen ist. Als äußeres Kennzeichen dieses radikalen Bruches in der Vorstellungswelt der Befreiungskriegsgeneration in Hessen-Darmstadt ist der Feldzug des hessischen freiwilligen Jägerkorps gegen Frankreich zu verzeichnen. Die militärische Aktion war zwar strategisch vollkommen belanglos und im Grunde überflüssig, gerade deswegen aber erlangte sie zentrale Bedeutung für die Politisierung einer ganzen Generation von Gießener Studenten und jungen Beamten. Denn nach dem Ende des Feldzuges nahm die Bewegung an der Landesuniversität des Großherzogtums Hessen-Darmstadt in Gießen besonders radikale Formen an, insofern sich nicht nur die in hohem Maß politisierte Verbindung der sogenannten ‚Schwarzen‘ bildete, sondern innerhalb dieser Gruppierung noch ein engerer, extrem radikaler Kern, der unter dem Namen der ‚Unbedingten“ bekannt geworden ist. Treibende Kraft dieser radikalen Kerntruppe war der Rechtsstudent und spätere Privatdozent Karl Follen, der dem Freiheitsstreben der Studenten eine zugleich radikale christlich-mystische und germanisch-heldische Richtung verlieh. Dies bewerkstelligte er nicht zuletzt mit seinen staatspolitischen und literarischen Schritten, den „Grundzügen zu einer deutschen Reichsverfassung“ aus dem Jahr 1818, einem Konglomerat mystischreligiöser und demokratischer Vorstellungen, und dem als „Großes Lied“ bekannt gewordenen Gedichtzyklus, einer Art liturgischem Programm für den feierlichen Teil der geheimen Versammlungen, bei denen der engste Kreis der Verschwörer zusammentraf.
Unter dem Gesichtspunkt der literarischen Produktion ist es vor allem Karl Follens älterer Bruder August Adolf Ludwig, der den typischen, von einer nationalen Euphorie und einem hochgeschraubten Nationalpathos getragenen Stil der Gießener ‚Sehwarzen‘ prägte. Zwar gibt es bislang keine wissenschaftlich fundierte Analyse der verschiedenen Anteile des Brüderpaares an ihren gemeinsamen literarischen Arbeiten, doch kann man davon ausgehen, daß vor allem A.A.L. Follen für die stark mystischen Passagen in den “Grundzügen“ und dem „Großen Lied“‚ verantwortlich ist. Dies läßt sich aus dem Grundtenor der späteren von ihm herausgegebenen Lyrik- und Liedersammlungen schließen. Mit dem l K 19 in Jena veröffentlichten Band “Freye Stimmen frischer Jugend“ schuf A.A.L. Follen das bekannteste Liederbuch der deutschen Burschenschaften. Die Liedersammlung enthält 65 Turn- und Freiheitslieder u.a. von Arndt. Körner. F. Schlegel. Schenkendorf und Uhland, die von A.A.L. Follen zusammengetragen und rigoros umgestaltet wurden, wenn einzelne Stellen in den Gedichten seinen Überzeugungen nicht entsprachen oder ihm Gelegenheit gegeben schien, die Gedichte unmittelbar politisch nutzen zu können. Die Melodien wurden von A.A.L. Follen und seinem Bruder Paul eigens komponiert. Die Dichtungen dienten einem Gemeinschaftserlebnis, an dem alle Anwesenden durch den Gesang aktiv beteiligt waren. Follen wurde im selben Jahr als Wortführer der Burschenschaften von der Untersuchungskommission des Berliner Kammergerichts. dessen Mitglied u.a. E.T.A. Hoffman war, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nachdem A. A. L. Follen sich den Polizeiverfolgungen der preußischen Behörden entzogen hatte. gab er 1823 in seinem Schweizer Exil die „Harfen-Grüße aus Deutschland und der Schweiz“ heraus, eine Sammlung von Gedichten, die ihre Liebe zum deutschen Volkstum und ihre, meist religiös gefärbte, Hoffnung auf Freiheit betonen. In einem von Follen verfaßten Preisgedicht auf die Schweiz. Bruchstücke aus einem „Schweizer Heldenbuch“. das programmatisch an den Anfang gestellt ist. wird in der Tradition Gessners der Schweizer Heldenmut verherrlicht und die Kraft der Bauernheere herausgestellt. In den politischen Gedichten der Sammlung griff Follen noch einmal zahlreiche Themen und Motive aus der früheren Dichtung der ‚Unbedingten‘ auf.
Neben den Lyrik- und Liedersammlungen war für die literarische Produktion der „Schwarzen‘ eine ausgeprägte Flugschriftenliteratur charakteristisch, die sich im Grenzbereich zwischen fiktionaler Prosa und politischer Polemik bewegte. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt hat sich Friedrich Ludwig Weidig, der spätere Mitstreiter Georg Büchners, in dieser Form literarisch betätigt- neben einer ganzen Anzahl weiterer Gießener Studenten, aus denen die später zum Kreis der Darmstädter ‚Schwarzen‘ zu rechnenden Heinrich Karl Hofmann.
Aus: „800 Jahre Gießener Geschichte. 1197-1997“ Gießen 1997, S. 512-539
(Fortsetzung und Anmerkungen folgen)