Peter Kurzeck : Nur mit einem Fuß auf der Leiter
Nur mit einem Fuß auf der Leiter
Festrede von Peter Kurzeck, dem 27. Stadtschreiber von Bergen, am 1. September bei der Feierstunde zur Schlüsselübergabe im Festzelt in Bergen-Enkheim
Erschienen in: Frankfurter Rundschau vom 4.9.2000
Der Main. Ich fange mit einem Bild an. Hier bei Bergen und Enkheim und auch durch Frankfürt fließt er nach Westen, der Main. Und der Wind, meistens Westwind, kommt ihm entgegen. Und beim leisesten Windhauch schon muss das Wasser sich kräuseln. Wie wenn es umkehrt und fließt zurück, so spielt und glitzert es dann. Bei Tag und auch in der Nacht. Als könnte es
sich nicht trennen! Andere Flüsse gibt es, die leicht und schnell mit dem Wind fließen. Mit Wellen, die rauschen und hüpfen und springen. Sogar vor dem Wind her. Das Wasser blinkt und beeilt sich. Und an solchen Flüssen zu stehen und erst recht, wenn man mit ihnen geht, das macht uns zuversichtlich und sorglos. Sogar noch, |wenn wir flussaufwärts gehen. Mit großen Schritten geht man und muss beim Gehen an die Ferne glauben.
Als ich erfuhr, ich werde Stadtschreiber in Bergen-Enkheim, sagte ich mir, ein Jahr ohne Sorgen. Du nimmst von deinem Leben und den Notizzetteln und Manuskripten nur das mit, was du in diesem Jahr zum Arbeiten brauchst. Die Sorgen und Gespenster und alles, was dich noch quält, die Post, die Zeit, die Vergänglichkeit, die übrigen Manuskripte, die jetzt nicht an der Reihe sind, die Müdigkeit und der Staub – das bleibt hier. Vor ein paar Monaten war das. Am Abend und weit im Süden. Ich saß mit einer Müdigkeit und der frohen Botschaft und mit meinen Sorgen und Zetteln an meinem staubigen alten Arbeitstisch und sah mich schon in der Zukunft und ohne Sorgen hier auf dem Berger Hang im Stadtschreiberhaus. In weiter Feme sah ich mich sitzen.
Sorglos – das denkt man im Voraus. Aber dann ist da der Main, und du merkst ihm an, dass er zwar davonfließt, aber kann sich nicht trennen. Du spürst, wie er an dir zieht, ein sänfter, beständiger Schmerz, ein zuverlässiger Schmerz. Alles ruft! Als ob man mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt und muss immerfort Abschied nehmen, mit jedem Blick Abschied nehmen und zusehen, wie alles davonfährt, entgleitet, verschwindet. Von uns weg. Jeder Abschied ein Abschied für immer. Und dazu ja auch die Arbeit, die Menschen, die Liebe. Mit jeder Liebe schleppst du dich lebenslang ab. Und jeden Tag schreiben. Man fängt immer wieder von vom an. Ich habe auch die Notizbücher und Manuskripte mit, die noch nicht dran sind, aber wollen sich vordrängen. Müssen dauernd auf mich einreden. Und dazu Frankfurt. Wie soll man sich Gesichter auch nur eines einzigen Tages merken? Und jedes Wetter? Frankfürt in meinen Büchern und Frankfurt in meinem Leben. Und die Vergänglichkeit, die mich gepackt hat und lässt mich nicht los. Kein Moment soll verloren sein! Und die Sorgen und Gespenster, genau wie die Post und der Staub und Behördenbriefe kommen schon von allein nach.
Einer der schreibt und dabei ist, ein Werk zu schaffen, ist wie ein Mensch, der auf einer Leiter steht. In beträchtlicher Höhe. Nur mit einem Fuß auf der Leiter. Mit dem anderen Fuß in der Luft. Über sich mit beiden Händen ganze Stapel von zerbrechlichem Zeug. Traglasten, Traumgepäck, Streichhölzer, Dynamit, Felsblöcke, Stangen und Kisten. Schnee, Schneeflocken, Wassertropfen, Wolken und Wolkenschatten, Gedanken, Vogelfedern, lebendige Vögel, Sandkörner und Goldklumpen, die er zu halten versucht. Sind viele, sind schwer und wollen davonflattern. Fangen zu rutschen an. Die Leiter schadhaft und morsch, geradezu lachhaft die Leiter! Angebrochene Sprossen, fehlende Sprossen. Der eine Leiterfuß rutscht (vielleicht ist der Fußboden nass oder ölig), der andere Leiterfuß abgebrochen, zu kurz und deshalb auf einem Schemelchen, das auf einem leeren Karton steht, der das nicht mehr lang mitmacht. Und wackelt nicht auch das Haus? So also ist jeden Tag wieder die Situation eines Schriftstellers bei der Arbeit. Man soll ihm keine Ratschläge geben. Es hat keinen Sinn, ihm mit Argumenten zu kommen. Man muss ihn gewähren lassen auf seiner halsbrecherischen Leiter!
Am 31. August 1977, gestern vor drei-undzwanzig Jahren, bin ich nach Frankfurt gekommen, um hier die letzte Fassung von meinem ersten Buch zu schreiben, die Reinschrift. Vom Dorf. Mit meiner Freundin, in einem großen, rostigen alten Auto voller Hausrat, Büchern, Gerumpel, ungeputzten Schuhen, Schreibmaschine und Manuskripten. Fängt schon an abzubröckeln, das Auto, aber noch ein halbes Jahr TÜV und mit Dachgepäckträger, Bettdecken, Leselämpchen, Korkenzieher, Radio und Wasserkanister. Unterwegs ein Gewitter. Wir waren zu spät dran. Fünf alte Schallplatten und drei Flaschen Rotwein im Auto. Gut, dass sie nicht zerbrochen sind. Wie auf der Flucht, so sind wir vor dreiundzwanzig Jahren spätabends hier angekommen. Die erste Nacht bei einem Freund. Mein Freund Jürgen, mein erster Leser. Und dann für die nächsten sechs Wochen leihweise ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Bockenheim. Vielleicht, höchstwahrscheinlich das Zimmer. Man muss daran glauben! Damals gab es in Frankfurt noch Wohngemeinschaften.
Wir sind in unserem ersten Jahr in Frankfurt aus Not fünfmal umgezogen. Und ich bin in all diesen Frankfurter Jahren meine alte, begründete Kinderangst vor der Obdachlosigkeit nicht einen einzigen Tag losgeworden. Immer ist mir, mein Schreiben sei nicht zulässig, illegal, kriminell. Für Grund und Boden gibt es überall auf der Welt Besitzer, aber die Erde und der Himmel gehören uns allen. Eine so einfache Wahrheit, dass man sie manchmal vergisst.
Geboren in Böhmen. Aufgewachsen in einem hessischen Dorf, in dem die Menschen zu der Zeit mit Fremden nicht reden konnten. Und dort auch fremd. So wird man Schriftsteller.
Wien war die erste Großstadt in meinem Leben. Auch Hamburg, Prag, Paris, Marseiile und Venedig habe ich eher als Frankfurt gekannt. Aber seit ich vor drei-undzwanzig Jahren hierher kam, lerne ich Frankfurt jeden Tag wieder auswendig. Mein schönstes Frankfurt-Buch ist immer das, an dem ich gerade arbeite, das nächste also. Und weil ich diesmal zwei halbfertige Bücher mithabe, ist es diesmal das übernächste. Mein schlimmstes Frankfurt-Buch heißt: Das schwarze Buch, erschienen 1982, und seit Jahren vergriffen. Es soll nicht vergriffen sein. Wenn es wieder aufgelegt würde oder ich noch ein paar Restexemplare hätte, würde ich allen Amtspersonen in Frankfurt und jedem einzelnen Frankfurter Würdenträger eins schenken. Die Stadt ist ja auch jedes Jahr wieder stolz auf ihren führenden Platz in der Bundesliga der Kriminalitätsstatistik.
Als Kind dachte ich, ich will alle Menschen kennen, die mit mir zugleich auf der Welt sind. Sie kennen und sehen, wie sie leben und wie es da ist, wo sie sind. Und habe deshalb an vielen Orten gelebt. Unter diesen Himmeln. Meistens mit angefangenen Manuskripten, die wollten, dass ich sie zu Ende schreibe. Denn wirklich, ganz und gar wirklich wird ein Land, eine Gegend, ein Ort für mich erst, wenn ich arbeiten kann an diesem Ort. Auch die Menschen, die Einwohner. Sogar ich selbst und nur dann! Jedes Ding fängt zu reden an. Jeder Augenblick sieht mich an. Alles ruft! Das ist dann die wirkliche Wirklichkeit, die es ohne Literatur nicht gibt und auch nicht geben kann.
Als ich gestern vor dreiundzwanzig Jahren mit meiner Freundin nach Frankfurt kam, um hier mein erstes Buch zu Ende zu schreiben und zu veröffentlichen, da dachte ich noch, wir sind nur für ein paar Wochen hierhergekommen. Für zwei, drei Monate. Höchstens ein halbes Jahr. Aber als das Buch fertig war, hatte ich schon mit dem zweiten Buch angefangen. Ein Buch über Frankfurt. Das schwarze Buch. Und inzwischen hatte ich auch gelernt, dass man nicht einfach zurückgehen kann. Oder wenn man zurückgeht, ist es nicht mehr der gleiche Ort, und selbst ist man auch nicht der gleiche Mensch.
Seit meiner Ankunft vor dreiundzwanzig Jahren hätte ich hier mindestens dreimal reich werden können. Reich und berühmt. Und ich weiß auch die zugehörigen Jahreszahlen und Anlässe. Und weiß auch, warum nicht, warum ich nicht reich wurde. Warum es mich damals eher gestört hätte. Das Geld zur falschen Zeit und der Erfolg aus den falschen Gründen, beinah wie ein Missverständnis – das stört einen dann bei der Arbeit. Beim Dasein und Träumen und Nachdenken. Und ein paar Mal in all diesen Jahren wäre ich auch fast verhungert. Erst kriegt man einen Schreck und dann merkt man, in einem so reichen Land wie Deutschland geht das ja doch nicht so leicht. Schreib das Buch zu Ende! Schreib alles!, sag ich mir dann. Wenn einer Schriftsteller ist, wird er nichts anderes mehr. Und solang das Buch noch nicht fertig ist, kann mir gar nichts passieren!
Und ich bin in diesen Jahren manchmal am Berger Hang gegangen. Unter den Obstbäumen. Verliebt und allein und mit Freunden und wieder verliebt und mit meiner Tochter, als sie noch klein war. Ein paar Jahre lang sogar jedes Jahr. Wenn sie blühen, muss man da gehen! Aber eigentlich auch im Juni (im Juni ist mein Geburtstag!), und dann wieder im Spätsommer. Wenn es reif wird, das Obst. Und im Herbst, jeden Herbst in den Herbst hinein. Und im Winter und Nachwinter. Sowieso immer nachsehen, ob alles noch da ist. Auf jedem Weg. Weil man als Schriftsteller und überhaupt als lebendiger Mensch ja auch zuständig ist für die Vielfalt der Welt und dass uns davon nichts verloren geht.
Schon damals bei meiner Ankunft gab es in Bergen-Enkheim einen Stadtschreiber und das Stadtschreiberhaus. Und jetzt kann ich natürlich gut sagen, ich wusste schon damals, dass ich einmal Stadtschreiber werde in Bergen-Enkheim! Ich hab das schon immer gewusst. Ich hab es mir nämlich gewünscht.
Seit einigen Jahren wird mein Leben mehr und mehr so, als ob ich es mir selbst ausdenke. Je länger ich schreibe, umso mehr wird es so. Nicht nur mich und mein Leben, auch die Welt muss ich mir unentwegt ausdenken. Die Länder und Menschen und Namen. Gespräche, den heutigen Tag und das Zelt und dass wir jetzt hier in dem Zelt sind. Die Gegenwart jeden Tag wieder. Furchtbar anstrengend, wenn man sich dauernd die ganze Welt ausdenken muss und darf dabei keinen Fehler machen und nichts je vergessen. Damit nur ja alles bleibt, damit nicht immerfort unentwegt alles wegverschwindet. Genau wie die Zeit. Jetzt hat mein Jahr hier schon angefangen. Und fängt auch schon an zu vergehen. Denken Sie an mich, sooft Sie an einem Fluss stehen!
Auch aus der Ferne, das habe ich in all diesen Jahren gelernt, sieht man Frankfurt sehr deutlich. Und weil ich es immer mit mir herumtragen muss und mich damit abschleppe, deshalb möchte ich die Stadt dazu bringen, dass sie es ohne mich nicht gut aushält!