Abendländische Fiktionen der chinesischen Schrift
Beginnen wir mit einem Lachen.
Die letzte Seite eines Textes ist immer auch schon die erste einer Vielzahl
anderer. Man kann das auch so sehen, daß die erste Seite die Antwort
auf die letzte Seite irgendeines anderen Textes ist.
Das Lachen, mit dem wir beginnen wollen, ist ein Lachen, "das alle
Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, das Denken unsrer Zeit
und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne
erschüttert, das uns schwanken läßt und in Unruhe setzt."
Es ist das Lachen Michel Foucaults, ausgelöst durch die Lektüre
eines Essays von Jorge Luis Borges.
Der Gegenstand dieses jede eingewöhnte Ordnung verwirrenden Lachens
ist "eine gewisse chinesische Enzyklopädie", die Borges
zitiert und in der die Tiere wie folgt gruppiert werden: "a) Tiere,
die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte,
d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in
diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden,
k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l)
und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem
wie Fliegen aussehen."
Ganz ähnlich würde vermutlich Jean Paul die Kapriolen des literarischen
Lebens einer gewissen mittelhessischen Kulturstadt charakterisiert haben.
Das Lachen Foucaults über die groteske Ordnung der Tiere in der bewußten
chinesischen Enzyklopädie klingt im Grunde wenig anders als das Lachen
Jean Pauls, und wir verkneifen es uns nicht, ein wenig mitzulachen.
Noch an einer anderen Stelle kommt Foucault auf Borges und dessen sprachkünstlerische
Auseinandersetzung mit dem abendländischen Chinabild zu sprechen,
und zwar dort, wo er eine begriffliche Unterscheidung zwischen Utopie
und Heterotopie vornimmt:
"Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben,
entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie
öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten,
leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang chimärisch
ist."
- Oder wenn eine rätselhafte Sphinx allein oder in Begleitung eines
hölzernen Zerberus an ihrem Eingangsportal Wache hält, möchte
man hinzufügen. Der Eingang in den Garten symbolisiert ja meist das
Tor zum Garten Eden, und man ist geneigt zu fragen, ob Rätselsphinx
und Holzzerberus so eifersüchtig ihre eigenen Utopien bewachen? Oder
sind sie bloß bestrebt, anderen ihre Utopien zu verwehren? Möglicherweise
weil sie spüren, daß ihre eigenen Utopien nicht mehr Wirklichkeit
werden können?
"Aber nicht doch!" besänftigen Borges/Foucault. "Die
gefährlichen Mischungen werden verbannt, die Wappen und Fabeln haben
einen höheren Ort erreicht. Kein unvorstellbares Amphibienwesen,
kein mit Klauen besetzter Flügel, keine häßliche Schuppenhaut,
keines jener polymorphen und dämonischen Gesichter, kein flammender
Atem. Die Monstrosität soll hier keinen wirklichen Körper verändern!"
"Also schön," denke ich, "und wie war das mit den
Heterotopien?"
"Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich
die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und
das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen,
weil sie im voraus die "Syntax" zerstören. Die Heterotopien
(wie man sie so oft bei Borges findet) trocknen das Sprechen aus, lassen
die Wörter in sich selbst verharren, bestreiten bereits in der Wurzel
jede Möglichkeit von Grammatik. Sie lösen die Mythen auf und
schlagen den Lyrismus der Sätze mit Unfruchtbarkeit."
Gut gesprochen, das gefällt mir.
Worum geht es Foucault? - Um "das Unbehagen, das uns lachen läßt,
wenn wir Borges lesen." Die von Borges aufgerufene Verdrehung der
Klassifizierung der Begriffe erhält bei ihm, wie Foucault unterstreicht,
"als mythische Heimat eine präzise Region, deren Name allein
für das Abendland eine große Reserve an Utopien bildet. China
ist doch in unserem Traum gerade der privilegierte Ort des Raums.
Für unser imaginäres System ist die chinesische Kultur die metikuloseste,
die am meisten hierarchisierte, die taubste gegenüber den Ereignissen
der Zeit, am meisten dem reinen Ablauf der Ausdehnungen verhaftet. Wir
denken an sie als eine Zivilisation von Deichen und Barrieren unter dem
ewigen Gesicht des Himmels. Wir sehen China ausgebreitet und auf die ganze
Oberfläche eines mit Mauern umgebenen Kontinents geheftet. Sogar
seine Schrift reproduziert den flüchtigen Flug der Stimme nicht in
horizontalen Linien. Sie richtet das unbewegliche und noch erkennbare
Bild der Dinge selbst in Säulen auf. Infolgedessen führen die
von Borges zitierte chinesische Enzyklopädie und die Taxinomie, die
sie vorschlägt, zu einem raumlosen Denken, zu obdachlosen Wörtern
und Kategorien, die aber im Grunde auf einem heiligen Raum ruhen, der
völlig mit komplexen Figuren, verflochtenen Wegen, seltenen Plätzen,
geheimnisvollen Passagen und unvorhergesehenen Kommunikationen überladen
ist. So gäbe es am anderen Ende der von uns bewohnten Welt eine Kultur,
die völlig der Aufteilung der Ausdehnung geweiht ist, die aber die
Ausbreitung der Lebewesen in keinem der Räume verteilte, in denen
wir die Möglichkeit haben zu benennen, zu sprechen und zu denken."
Mit seinem Buch ‘Die Ordnung der Dinge’, das 1974 auf deutsch erschien
und dessen Vorwort die vorstehenden Zitate entnommen sind, wollte Michel
Foucault u.a. das Wissen von den Gesetzen der Sprache mit dem dieses Wissen
begleitenden philosophischen Diskurs in Beziehung setzen.
Es ist bemerkenswert, daß er diese Themenstellung mit der Problematik
der abendländischen Fiktion des chinesischen Denkens und der chinesischen
Schrift beginnen läßt. In modifizierter Form begegnen wir diesem
Chinasyndrom auch in Jacques Derridas "Grammatologie", allerdings
ohne das befreiende Lachen Foucaults wiederzufinden.
Man ist sogar eher ein wenig an die nüchterne Strenge alttestamentarischer
Gesetzestafeln erinnert, wenn der das abendländische Denken beherrschende
Logozentrismus in eine unauflösliche Verbindung mit dem phonetischen
Charakter unserer Buchstabenschrift gebracht und in gleichem Atemzug die
Abwertung der ideogrammatischen Schrift, wie sie in China entwickelt wurde,
als das Ergebnis der ethnozentrischen Substruktur des abendländischen
Denkens angeprangert wird. Wenn die Unauflöslichkeit dieser Verstrickung
so dargestellt wird, als ob sie eine Art Erbschuld des Abendlandes wäre,
ist es dann ein Zufall, daß dieser Diskurs gerne im Gewand eines
sendungsbewußten Dogmatismus oder kämpferischen Zelotentums
auftritt?
Das riecht, mit Verlaub, ein wenig nach einer romantischen Revolte gegen
das Romantische, d.h. nach Fiktion. Bezeichnenderweise ist es auch nicht
die literarische Kunst eines Borges, sondern die Ezra Pounds, der sich
Derrida in diesem Zusammenhang zuwendet. Nun, - damit sind wir schon fast
wieder bei den Kapriolen des Gießener Literaturlebens angelangt.
Doch davon später.
Zunächst bleibt festzuhalten, daß spätestens seit Derridas
"Grammatologie" die Wege zu Pound vornehmlich über die
Lektüre Ernest Fenellosas führen.
Es ist hinreichend bekannt und daher nicht nötig, darauf hinzuweisen:
eine entscheidende Phase in Pounds künstlerischem Werdegang setzt
mit dem Umstand ein, daß Mrs. Mary Fenellosa ihm im Jahr 1912 die
Notizbücher ihres verstorbenen Gatten, des Japanologen und Kunsthistorikers
Ernest Fenellosa im Manuskript übergab. Aus diesem Nachlaß
gab Pound dann den Essay ‘Das chinesische Schriftzeichen als Organ für
die Dichtung’ heraus. Obwohl die Forschung die verklärende Sicht
Fenellosas längst an den Tag gelegt hat, bezieht sich Derrida affirmativ
darauf:
"Fenellosa, der Zug um Zug die logisch-grammatikalischen Strukturen
des Abendlandes (und vor allem der aristotelischen Kategorientafel) hinterfragte
und den Nachweis erbrachte, daß sie für eine korrekte Beschreibung
der chinesischen Schrift untauglich sind, machte einmal darauf aufmerksam,
daß die chinesische Dichtung ihrem Wesen nach Schrift ist."
Und an derselben Stelle pflichtet Derrida Fenellosas These bei, die da
lautet: "Zu einem genauen Studium der chinesischen Dichtung müssen
wir ... uns vor der abendländischen Grammatik hüten, insbesondere
vor ihren strengen sprachlichen Kategorien."
Von einem solchen Standpunkt aus ist der Schritt zur Rehabilitation der
romantischen Idee von Sprache und Dichtung nicht weit. Obwohl Derrida
erkannte, daß der Begriff der chinesischen Schrift als eine Art
europäische Halluzination fungierte, lebt und unterliegt sein eigener
Begriff der chinesischen Schrift von und mit dieser Halluzination. Unter
den kritischen Köpfen, die diese Inkohärenz entdeckt haben,
ist David Palumbo-Liu zu nennen, der in seinem Aufsatz ‘Schrift und kulturelles
Potential in China’ einige notwendige Bemerkungen zu diesem Thema beigesteuert
hat (in Gumbrecht/Pfeiffer: Schrift. München 1993).
Nach Kindler ist die chinesische Schrift für viele Eigenarten und
Einzigartigkeiten der chinesischen Literatur verantwortlich. Wir wissen
nicht genau, wann sie erfunden wurde, aber ihre frühesten Zeugnisse
reichen in das zweite vorchristliche Jahrtausend zurück: Orakelaufzeichnungen
auf Knochen und Schildkrötenschalen und Weihetexte auf Sakralbronzen.
Schon die ältesten überlieferten Inschriften zeigen einen Schrifttypus,
der sich von der heute noch verwendeten Schrift im Prinzip nicht unterscheidet.
Es handelt sich um eine mit phonetischen Elementen durchsetzte Bilderschrift,
wobei jedes Zeichen einem Wort bzw. einer Silbe entspricht. Da die Chinesen
nicht den Weg zu einer reinen Lautschrift zurückgelegt haben, kann
man das Chinesische auch nicht buchstabieren, sondern die Bedeutung und
Aussprache jedes Schriftzeichens werden eigens gelernt. Die Sinnübermittlung
der chinesischen Schrift kann daher eigentlich des Bezugs zur gesprochenen
Sprache entraten, denn dem Lesenden wird der Sinn eines Textes unmittelbar
durch ein System optischer Zeichen vermittelt. Die Schrift funtioniert
also wie eine chemische oder mathematische Formel, deren Verständnis
nicht des Substrats einer bestimmten Einzelsprache bedarf, sondern in
allen möglichen Sprachen gelesen werden kann. Leibniz sah deshalb
in der chinesischen Schrift ein übernational verwendbares Mittel
zum Austausch der Gedanken.
Chinesische Schriftsprache ist (bislang) das einzige Medium, in dem man
dichten kann, ohne die eigentliche Sprache sprechen zu können. Theoretisch
wäre ein schriftsprachlicher Text einem Leser verständlich,
wenn er nur die Bedeutung der Schriftzeichen, nicht aber ihre Aussprache
kennt. Kein Wunder, daß dieses Potential der chinesischen Schrift
mit ihrer Tendenz zur Geschichtslosigkeit die abendländische Phantasie
beflügelte, ein Prozeß, der durch die jahrtausendealte Abgeschlossenheit
der chinesischen Lebenswelt und dem damit verbundenen Reiz des Exotischen
verstärkt wurde. Zu den wirkungsvollsten Fiktionen des Abendlandes
über die chinesische Schriftsprache und ihre Implikationen für
die Literatur zählen die hinterlassenen Aufzeichnungen Fenellosas.
Fenellosas irrige Vorstellungen über die chinesische Schrift beeinflußten
nachhaltig Ezra Pounds "unabdingbar graphische Poetik" (Derrida).
Im Jahr bevor er die Manuskripte von der Witwe Fenellosas erhalten hatte,
war Pound in einem Zustand kreativer Ratlosigkeit nach Gießen gekommen,
um von dem damals hier wohnenden englischen Schriftsteller und Kritiker
Ford Madox Ford ein Urteil über seine kurz zuvor erschienenen "Canzoni"
zu erhalten. Der Leser hat es bereits bemerkt, wir sind in der Tat nun
wieder bei den Kapriolen des Gießener Literaturlebens angelangt.
Um es vorweg zu nehmen, Fords Urteil fiel vernichtend aus und löste
einen gewaltigen poetologischen Erdrutsch bei Pound aus. "Er hat
mich um zwei, wenn nicht drei Jahre in meiner Entwicklung vorangebracht",
erinnert sich Pound später seines Gießener Erweckungserlebnisses.
Wir entnehmen diese und die folgenden Informationen einem vor kurzem im
Feuilleton der Frankfurter Rundschau erschienenen Artikel von Helmut Winter
mit dem Titel ‘Mit Ezra auf den Schiffenberg. Weitreichende literarische
Folgen eines Deutschland-Aufenthaltes’:
"Es war in der Tat ein seltsamer Zufall, der Ezra Pound in einer
schöpferischen Krise nach Deutschland führte. Unmittelbarer
Anlaß der Reise war eine Einladung von Ford, der sich im Land seiner
Vorfahren aufhielt. Ford ... unternahm gerade einen unorthodoxen Versuch,
sich aus der Ehe mit der katholischen Elsie Martindale zu befreien und
sein Verhältnis mit der flamboyanten Feministin und Schriftstellerin
Violet Hunt zu legalisieren. ... Dem Gießener Rechtsanwalt Dr. Ludwig
Leun, den ihm seine Verwandten ... empföhlen hatten, war es gelungen,
Ford einzureden, er könne durch einen eineinhalbjährigen Deutschland-Aufenthalt
die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben; der Heirat mit Violet
Hunt stünde dann nichts mehr im Wege. ... Da ihm der Anwalt nahegelegt
hatte, sich in einer Provinzstadt durch untadeligen Lebenswandel und regelmäßigen
Kontakt mit den örtlichen Honorationen einen vorzeitigen Anspruch
auf die deutsche Staatsbürgerschaft zu sichern, beschloß Ford,
in die unmittelbare Nähe dieses gescheiten Anwalts, das heißt
nach Gießen zu ziehen. Er wohnte zuerst in einer Pension in der
Nordanlage 29; später mietete er in einem Neubau in der Friedrichstraße
15 eine möblierte Wohnung. In seinen Briefen aus Gießen an
die Londoner Freunde beklagt er sich bitter über sein Schicksal:
‘Ich, ein britischer Schriftsteller, begrabe in Deutschland mein Ansehen
und meine Karriere! Ich lebe ein tristes Leben in einer trübseligen
Industriestadt! Vor meiner Pension spielen Straßenjungen mit Knallfröschen,
klettern, während ich in meinem Erdgeschoßzimmer arbeite, aufs
Fensterbrett, grinsen und rufen: Hallo, Engländer!’"
Als am 7. August 1911, einem schwülen Spätsommertag, um die
Mittagszeit, Ezra Pound Ford, jung, rotbärtig, in einem froschgrünen
Hemd mit Glasknöpfen dem älteren, korpulenten Ford Madox Ford
in der Gießener Friedrichstr. Nr. 15 seine "Canzones"
vorlas, in gespannter Erwartung auf dessen Reaktion, wälzte sich
dieser, wie Winter mitteilt, stöhnend und in ungeheucheltem Entsetzen
über die soeben gehörten Gedichte auf dem Teppich seiner möblierten
Wohnung.
Enden wir also, eine solch kapriziöse Bodenrolle auf der geistigen
Netzhaut bewahrend, wie wir begonnen haben, mit einem befreienden Lachen.
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