Literarische Arbeiten Lyrik die luft über gießen


die luft über gießen

1
die luft über gießen atmet gespenstisch
ist schwarz und schwer zu halten
in schnäbeln wie flügeln

unaufhaltsam speist sie schwitzende lungen
mit krassen phantasmen
hart gespickte hastende bilder
träume eingeritzt in haut und mauern
und freiem lauf überlassen
auf biegen und brechen

nacht reitet über gießen
wie dereinst der jüngste tag
über stein und bein und bricht hälse

sehnsuchtgesättigt flammen gespinste
hinauf in den nachtgrellen himmel
schweißkalt zerquetschtes nackenhaar
sticht nass hinaus auf den kragen

2
erinnerungen bäumen auf
walmen unter schweigenden dächern
brechen steil durch stühle und firste
schneien frischgebrochene ziegel
über ein zerplatztes feld von scherben
im sterben liegen zerfetzt straßen und plätze

hoch oben im geruch von staub und gebratenem fleisch
obenauf hoch überm dachgebälk
baumelt wie eh und je der wetterhahn
eingeschnürt in tiefgerötete scham
dreht sich in den fahnenwind
und trägt ein steinernes gesicht

3
heut ist nikolaus abend da
auf den schieferdächern tanzt knecht ruprecht mit den roten hähnen
gespenstisch tänzelnd kippt die brüstung
ein irrwisch im sprung die fassaden hinunter
entlang den bahnen aus swastikafahnen
umschmeichelt das reichsadlerrelief
aus weißem gail`schen tonerdeklinker
hüpft - lustig lustig - über den bordstein
und kommt - tralalalala - um sein bißchen verstand
sticht unter den abflußkanal
bricht durch in den bebenden keller
wo sich zitternd die atemluft krümmt
und schmerzverzerrt unter luftschutz
ins vorher befeuchtete handtuch beißt

draußen steckt die nacht den plätzen und gärten
kleine flammenzungen auf
kerzenlichter auf pilgeraltären
verwandeln dem augenblick die stadt
weihnachtshell in eine kathedrale
aus strahlenden phosphorzungen
von zürnenden zeusen geschleudert
sie brechen durch dächer
und stecken in balken und möbeln
wer kann packt an
frauenhände flattern wie fackeln
im hohen bogen auf die straße
wo der asphalt schon flackert und schmilzt

4
auf der steinernen hinterhaustreppe
sitze ich ein eiserner kleiner junge
und sinke
bis über beide ohren
hinein in die zitternde erde

gießen im loch
ich finde dich dennoch
noch einmal geschlafen
dann trifft es dich doch
gießen im loch

hart gespickt mit krassen sarkasmen
ritze in haut und mauern
naßkaltes nackenhaar
kragt hinaus in die schnäbel
schwarze steinerne bögen
ragen schwer in die reitende nacht
unaufhaltsam atmen flügel
stöße von luft durch gebrochene lungen


tausend kleine flammenzungen
aufgesteckte kerzen wie lichter auf pilgeraltären
das apokalyptische zwielicht der stadt
verwandelt
augenblicklich
in einen hohen dom aus licht

illuminierte kathedrale
zur wallfahrt erleuchtetes münster
gebeinhaus aus gotischem maßwerk
mit gewölben aus verbogenen schädeln
und gerüsten aus trockenen knochen

die luft über gießen
ist kalkhaltig und gesättigt mit sand

schwer zu atmen


   
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