Literarische Arbeiten Lyrik out of here

Tanz der Brunnen

In der Zwischenzeit waren zwei bekannte Laubacher Lokalgrößen, Mommontanus und Gallior, zu uns gestoßen.
Dylan und ich hatten über die seltsamen Latinisierungen der Namen spekuliert, wir waren bei der Entschlüsselung aber nicht sehr weit gediehen. Dylan meinte, der Namensteil ‚montanus‘ wohl soviel wie ‚berger‘ bedeuten müsse, während im anderen Fall ich glaubte, bei ‚gallior‘ müsse es sich um eine Art Komparativ von Hahn handeln.

Ich führte Dylan am Halfter. Neben mir gingen Mommontanus und Gallior, die uns bis Laubach begleiten wollten, der eine bewehrt mit Zeichenblock und Stift, der andere behängt mit Fotokameras wie ein russischer Weltkriegsveteran mit Orden. Wir unterhielten uns über die besonderen Eigenarten der Laubacher Landschaft. Wir waren ein Stück auf einem alten, verwitterten Schienenstrang gelaufen, aber der schottrige Untergrund war unsern menschlichen Füßen unbequem, während Dylan seine alten Saumtiereigenschaften wiederentdeckte und ein wahres Vergnügen daran zu haben schien, uns ständig stolpern und straucheln zu sehen.

Gerade als wir auf die bequemere Landstraße eingebogen waren, meinte Mommontanus:

"Man könnte das Laubacher Land als das Land der Mühlen charakterisieren. Da haben wir z.B. Löbsacksmühle, die Schreinersmühle und die Hörismühle ..."
Ein bitterer Krampf zog meinem Dylan das Maul krumm.
"Wenn ich so einen Namen schon höre, Löbsack, wer wäre so blöde einen Mehlsack auch noch für etwas löbliches zu erachten. Die Ignoranz der Menschen könnte einem das Nackenhaar sträuben machen, wenn es nicht ohnehin schon ständig gesträubt nach oben stünde."

"Und in früheren Zeiten," fuhr Mommontanus unbeirrt fort, "hatten wir auch vor den Toren Laubachs einige Mühlen, die Obermühle, die Untermühle und sogar eine Windmühle, obwohl hier bei uns ja ganz selten ein stärkerer Wind weht und sich höchstens mal an einem lauen Sommerabend ein lindes Zephirlüftchen regt, wie das unser Heimatdichter Schmaus einmal so poetisch beschrieben hat.

Außerdem gab es innerhalb der Mauern noch eine Notmühle, die wurde allerdings so gut wie nie benutzt, die war halt, wie der Name sagt, nur für Notfälle vorgesehen, vor allem bei Belagerung der Stadt. Wenn es dann noch was zu mahlen gab in der Stadt."

Jetzt ergriff Gallius das Wort. "Was du von den Mühlen für die Umgegend von Laubach sagst, lieber Mommontanus, das könnte man mit Bezug auf die Stadt Laubach selbst für ihre Brunnen sagen. Genau genommen ist Laubach nämlich eine Stadt der Brunnen.

Alleine in der Laabach, also in der Au zwischen Steinweg und Dexionstraße dürften über dreißig Brünnlein ein Recht auf Nennung haben, und dann die vielen anderen im Bereich von Wetter, Froschloch und so weiter."

Dylans Krampfmaul entspannte sich ob dieses geschickten Themawechsels wieder etwas. Jetzt verspürte er allerdings einen schier unstillbaren Durst. Er jammerte und klagte darüber, daß es Eseln in der Mittsommernacht verboten ist, aus ungefaßten Gewässern zu trinken, da der eselköpfige Unterweltgott Typhon sie in dieser Nacht mit höchst schädlichen Typhusbakterien verseuche. Die ganze Nacht sei es ihm gelungen, jeglichen Gedanken an klares Wasser zu unterdrücken, aber jetzt, da das Gespräch auf die Laubacher Brunnen gekommen sei, könne er sich nicht mehr halten.

Dicht hinter uns lief die Gruppe der Squenzschen Laienschauspieltruppe. Sie hatten Dylans Dilemma mitbekommen. Einer von ihnen sprang aufgeregt von einem Bein aufs andere und sprach erregt:
"Wir Schauspieler sind die trefflichsten Brunnen, die du finden kannst. Ich selbst habe früher schon einmal in dem berühmten Schauspiel Pyramus und Thisbe den Brunnen gespielt, ich kann dir bestimmt helfen."
Er hängte sich ein Schild um den Hals, auf das er flugs ‚Engelsbrunnen‘ geschrieben hatte. In der Zwischenzeit hatte ein zweiter unten an der Wetter einen Schlauch mit Wasser gefüllt, den er nun dem Engelsbrunnen hinhielt. Dieser nahm einen kräftigen Schluck und spie ihn dann wie ein leibhaftiger Springbrunnen in einem hohen Bogen in die Luft.

Aber Dylan wurde nur um so verzweifelter. "Die Idee ist ja ganz gut, aber es muß nach der Vorschrift ein gefaßter Brunnen sein, du aber bist dafür bei weitem nicht gefaßt genug. Und außerdem wirst du doch gerade frisch renoviert."

Da trat der Prinzipal selbst ruhig und mit großer Würde aus dem Kreis seiner Schauspieltruppe hervor und sprach gemessenen Tons: "Wenn das deine einzige Bedingung ist, dann will ich den Part übernehmen, denn ich sehe hier niemanden, der gefaßter wäre als ich." Man hängte ihm eine Tafel um, auf der ‚Schlossbrunnen‘ geschrieben stand.

Aber auch der gefiel Dylan nicht, weil er angeblich eine gewisse ominöse Rolle in dem Grimmschen Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren gespielt hatte.

"Ich mach den Portebrunnen!" rief jetzt ein dritter, aber der war Dylan nicht koscher genug, weil er, wie Dylan meinte, zu nah am Siechenhaus stünde.

So hatte er nacheinander dies und jenes an den verschiedensten in Vorschlag gebrachten Brunnen auszusetzen. Ob es nun der Grimannsbrunnen war oder das Röderbrünnchen oder sonst irgend ein anderer der zahlreichen ehrwürdigen Wasserspender Laubachs, allesamt wurden sie mit den unterschiedlichsten Begründungen und Einwänden von Dylan verworfen. Gleichzeitig steigerte sich aber der verzweifelte Durst Dylans ins Unerträgliche.
Zuguterletzt verfiel man auf einen längst vergessenen, unter einem Berg von Laub und Reisig vor sich hin verwitternden Brunnen im Schloßpark. Aber niemandem wollte der Name einfallen, so wußte man auch nicht, was man auf die Tafel schreiben sollte. Endlich sagte Gallior: "Ihr meint gewiss das Renn-Brünnchen." Und man beschriftete schnell das entsprechende Schild, um es dem letzten der Schauspieltruppe umzuhängen. "Aber das ist doch der Editha-Klipstein-Brunnen!" warf jemand ein. "Nix da! Immer noch Renn-Brunnen!" behauptete Mommontanus. "Klipstein Brunnen!" erwiderte ein dritter, und so ging es hin- und her. Schließlich hatte der arme Schauspieler vorne zwar Schild mit der Bezeichnung ‚Renn-Brunnen‘ umhängen, hinten aber eins, auf dem in sauberen klaren Lettern geschrieben stand: ‚Editha Klipstein Brunnen‘. Dabei wurde er von den sich widerstreitenden Parteien unaufhörlich so herum gedreht, daß mal der eine, mal der andere Name zu lesen war.

Immer schneller wirbelte man den armen Kerl um seine eigene Achse, bis das Wasser im Brunnen sich bald in einen heftig wirbelnden Strudel verwandelte. Unterdessen hatte Dylans Durst so überhand genommen, daß er sich des Namensstreites ungeachtet über den Brunnenrand beugte, das Gleichgewicht verlor und Hals über Kopf hineinstürzte. Sofort wurde er von dem Strudel in die Tiefe gerissen und ward nicht mehr gesehen.


Dylans Tod

Seine Glieder werden schwer, der ganze Körper wird zu Stein. Ein schreckliches Kämpfen wütet im inneren seines steinernen Körpers, ohne daß er sich bewegen kann. Dann kommt ein Ersticken, und er ist noch einmal da, losgerungen aus dem steinernen Tod. Er denkt, das ist die Seele, sie wird fliegen, aber er fällt, fällt mit entsetzlicher Geschwindigkeit durch einen Schacht, der ausgemauert ist. Er versucht sich zu halten und gleitet ab, dann hört der Schacht auf, es kommt lockere, aufgewirbelte Erde. Er versucht, sich schwer zu machen, irgendwo Halt zu finden, aber er gleitet hindurch, als wäre er ein Rauch. Zugleich aber ist er wie ein Kriechtier, das sich durchwühlt, ein Wurm, der durch Windungen kriecht, ein Käfer, der durch Ritzen fällt, und alles geht unaufhörlich und grauenvoll schnell. - Er wird immer kleiner und weniger, schließlich ist er fast nicht mehr, nur wie eine winzige Luftblase ist er noch da, und dann der Augenblick, wo er die Auflösung fühlt, wo er weiß: nun bist du nicht mehr da.


Grand Finale

Wir standen da und schauten uns betroffen in die Augen.

Schon sah man im ersten Morgengrauen den Luftkurort Laubach sich aus dem Morgendunst lichten. Meine Haut begann an verschiedenen Stellen bedenklich zu jucken, höchste Zeit, mich in ein finsteres Kellerloch zu verkriechen.

Gerade in diesem Moment bog mein Freund Ossilva (Zitat Dylan "Nicht schon wieder so eine merkwürdige Latinisierung!") mit einer Wagenladung frisch gehauener Natursteine um die Ecke.
"Na immer noch mit Hausbau beschäftigt?" fragte ich.
"Gutes Baumaterial," war die Antwort. "Vom Braun Basalt oben am Eselskopf."

"Der Eselskopf!" schoß es mir durchs Gehirn.
In mir tönte eine hohle Stimme. "WENN DU ZWISCHEN DIESEN SÄULEN DURCHPASSIERST, WIRD DEIN SCHICKSAL SICH ERFÜLLEN."
"Die Säulen des Herakles, das waren zei Gebirge! Wo ist der Pferdekopf?" schrie ich und rüttelte den mir zufällig am nächsten stehenden Mommontarius so durch, daß er nur verdutzt stottern konnte: "Einen Gaulskopf gibts, da drüben, auf der anderen Seite."
So hatte sich also das Traumorakel Dylans bewahrheitet.

"Ossilva," sagte ich, "du siehst die Tragödie, die sich unter unseren Augen abgespielt hat, laßt uns doch in Zukunft diesen traurigen Brunnen ‚Dylan-Brunnen, oder wenigstens ‚Eselsbrunnen‘ nennen."
"Das ist schwierig!" wiegt er bedenklich den Kopf. "Der Brunnen hat schon zuviel Staub aufgewirbelt."
"Außerdem ist das Verkehrsamt da wahrscheinlich gar nicht für zuständig," gab Mommontanus zu bedenken.

"Also ich verstehe das nicht," sagte ich. "Warum kann so ein Brünnchen nicht mehrere Namen haben? Das ist doch sogar eher noch eine Bereicherung. Grimansbrunnen oder Helmbrunnen, warum nicht beides, hinter beiden Namen stehen doch zwei wunderschöne Geschichten, warum sollten wir da auf eine verzichten?
Je mehr Geschichten, desto interessanter wird doch so ein Bauwerk. Schaut euch doch mal die Solmser Grafen, wieviel Namen und Titel haben die nicht immer schon gehabt. Doppelnamen, Dreifachnamen. Was ist da schon dabei. Wenn wir etwas aus dieser Metamorphosennacht gelernt haben sollten, dann doch wenigstens soviel, daß Identitäten fließend sind."

"Schon," sagte Ossilva, "aber die Kommunalpolitik! Das läßt sich politisch kaum umsetzen.

Aber mal sehen, da wird es in Laubach doch sicher ein Sträßchen oder Gäßchen geben, das wir nach dem Esel taufen können.

Und bald darauf wurde ein ‚Eselspfad‘ in das Laubacher Straßenregister eingetragen.


   
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