Literarische Arbeiten Lyrik out of here

Heracleum pubescens Lauterbachiensis

Es ist von einer zweiten, weit schlimmeren und gefährlicheren Metamorphose zu berichten, die ich in dieser Nacht zu durchlaufen hatte.
Das einzige was mich hinterher noch hätte retten können, wäre eine mit Tagesanbruch beginnende ewige Sonnenfinsternis gewesen.
Plötzlich gehörte ich, auf eine vertrackte Weise, zu jener Sorte von Menschen, die man, zu recht oder zu Unrecht, lichtscheues Gesindel nennt. Als Gesindel konnte ich mich zwar nicht begreifen, dafür fand ich mich aber in dieser Nacht zu einem extrem lichtscheuen Menschen verwandelt.

Dylan und ich hatten gerade unsere Rast beendet und schickten uns an, unseren Weg fortzusetzen, als mich ein dringendes körperliches Bedürfnis überfiel. Ich schlug mich daher kurzerhand seitwärts in die Büsche. Ohne daß es mir im Halbdunkel klar geworden wäre, packte mich die eiserne Klaue des Bären. Oder, wie Linné die Gattung bezeichnet hat, der Heracleum pubescens. Eine zu den Doldengewächsen gehörige Gattung perennierender Kräuter von sehr ansehnlichen Dimensionen, wegen deren sie ein sehr wertvolles Material zur Ausstattung landschaftlicher Gärten darstellen. Ihre enorm großen, in verschiedener Weise, aber stets elegant geschnittenen Blätter, ihre starken Stengel, die oft über drei Meter hoch werden, und ihre riesigen weißen Blütendolden sind auf dem Parkanlagenrasen von bedeutender Wirkung. Außerdem sind diese aus dem Kaukasus stammenden Pflanzen in Deutschland vollkomen hart verwurzelt und erfordern, einmal eingepflanzt, keine weitere Pflege als das Begießen bei anhaltender Trocknis. Eine weiche Behaarung gibt ihren derben, fiederteiligen Blättern eine wunderbar gräuliche Färbung. Nur wenige Zierstauden kommen der Heraklespflanze gleich. Von der ausgezeichnetsten Wirkung sind sie an den Rändern der Teiche und Bäche.
So naiv schönfärberisch steht es jedenfalls in Hermann von Riedesels Flora Lauterbachiensis von 1791.

Was den Lauterbachern recht ist, ist den Laubachern billig.
Oder wie eine alte Bauernregel sagt, "Das Wetter an der Lauter ist nicht netter als das Wetter an der Wetter."
Oder
Die Lauter in Lauter ist auch nicht lauter als die Lauter in Lauterbach.

Es war Dylan, der mich darauf aufmerksam machte, daß die Büsche, in die ich mich soeben geschlagen hatte, nichts anderes als ein hübscher kleiner Wald von Riesenbärenklaustauden waren und daß ich mich wohl an einigen vitalen Stellen meines Körpers so verätzt hätte, daß ich das kommende Tageslicht wohl meinen Lebtag nicht vergessen würde. Bis zum Morgengrauen hätte ich noch Schonfrist, denn die ätzende Wirkung der Säure trete nur in Verbindung mit Licht auf.
Während er mir die sonnigsten Aussichten vor meinem geistigen Auge ausmalte, kaute er selbst genüßlich an drei hübschen grauen Bärenklaublättern herum, deren Enden ihm dabei aus dem Maul hingen und bei jedem Bissen provozierend auf und ab wippten.
"Ich bin ein geborener Distel- und Brennesselfresser, mir macht das Zeug nichts aus!" sagte er, als er meinen fragenden Blick bemerkte. Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mir wie ein Esel vor, und wäre in diesem Momemt gleichwohl lieber ein Esel gewesen als ein Mensch.


   
Copyright © 2000-2009 Rolf Haaser
Design by Inter@ctive Design