Sonntag, 10. Mai 2009 18:00 - 19:15
"Der genius loci des Brands"
Literarische Soiree rund um den Gießener Brandplatz
Exkurse: Anekdotische Streiflichter zur Kulturgeschichte
des Platzes.
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Studentische Schlittenfahrten hatten einen gewissen Stellenwert
in der Geschichte der akademischen Disziplinlosigkeit und wurden der
Universitätsbehörde häufig zum Ärgernis.
1740 sah sich beispielsweise Professor Liebknecht genötigt dagegen
vorzugehen, dass einige der Herren Stipendiaten „aus sonderbahrem
Kützel öffentlicher Schlittenfahrten sich bedienten und
sich das ungeheure Bezeigen des Schneeballenwerfens“ zuschulden
kommen ließen. 35 Jahre später setzten die Studenten noch
einen drauf und veranstalteten Schlittenfahrten in Form von karnevalistischen
Maskeraden. Die maskierte Schlittenfahrt.
"Die letzte maskierte Schlittenfahrt hielten die Studenten
im Winter 1776 – 1777. Die Ursache des von hieran bestehenden
Verbotes war folgende: Ein Student, der [dem Theologieprofessor
und Superintendenten] Bechtold einigermassen glich, fuhr mit Perücke
und priesterlichem Ornat einen Schlitten; in demselben sass ein
anderer Student wie eine leichtfertige Dirne gekleidet. Gassenbuben
liefen dem Schlitten nach und riefen: „Das ist der Superintendent
Bechtold!“"
Aus: Ernst Ludwig Wilhelm Nebel „Jocosa-Seria“ (Maschinenschriftl.
Nachschr. nach d. Durchschlag d. Originals d. Univ.-Bibl. in Gießen).
Gießen 1980.
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Aus meiner militärischen Laufbahn bis zum Revolutions Krieg
(Aus den unveröffentlichten Erinnerungen des Lieutenants Friedrich
Leopold Klipstein)
"Der Character des Oberlieut von B. kann aus folgenden Handlungen
beurteilt werden. Das um 7 Uhr morgens zum Ausrücken bestellte
Bataillon ließ er oft stundenlang, in der übelsten Witterung,
vor seiner Wohnung im Gewehr stehen, während dem er entweder
bei seiner Maitresse noch im Bett lag, oder im Nachtkleid gemächlich
am Fenster eine Tasse Kaffe schlürfte. Beim Exercieren schlug
er die Leute oft eigenhändig und ohne Ursache unbarmherzig.
Beim Ausmarsch aus Gießen glich seine und seiner Maitresse
Feldequipage, der eines Bassas, unter anderem schleppte er einen
großen schweren Tocatillen-Tisch von Eichenholz mit. Jenseits
Butzbach hörte man in weiter Entfernung einzelne Kanonenschüsse,
sogleich ließ er das Bataillon in Linie aufmarschieren und
die Kanonen laden. In Rodheim blieb er zurück und wir sahen
ihn nie wieder."
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Die Fledermaus in der Vorlesung
Die Vorlesungen wurden früher in Gießen in der Regel
nicht in dem Universitätsgebäude sondern von jedem Professor
in seiner Wohnung gehalten. Nun hatten sich aber einmal zu den Psalmen
bei Kuinöl so viele Zuhörer, etwa 70, gemeldet, daß
diese in dessen Auditorium keinen Raum fanden und daher die Vorlesung
in dem großen Saale des alten Universitätsgebäudes
gehalten werden mußte. Hier begab es sich, daß sich
als Zuhörer eine Fledermaus einfand, welche, über den
Köpfen der Anwesenden hin- und herfliegend, die ganze Versammlung
in großen Alarm brachte, besonders aber den guten Kuinöl
so in Schrecken versetzte, daß er seinen Vortrag unterbrach
und die hebräische Bibel zum Schutz über den Kopf haltend
rief: „Sorgen Sie, meine Herren, daß Ihnen das Tier
nicht in die Haare kommt!" Darauf ging denn das Aufspringen,
Hin-und Herrennen, Schlagen mit den Mappen los, bis endlich das
verfolgte Tier, vom starken Schlag des Studenten Mann getroffen,
seine Verwegenheit mit dem Leben bezahlen mußte, worauf das
Lesen und Nachschreiben in aller Ruhe wieder fortgesetzt wurde.
(Aus: Hermann Schüling "Gießener Anekdoten".
Gießen: Brühlscher Verlag, 1980.
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