Motorradmadonna
"Die haben wohl zuviel Holundersaft getrunken," bemerkte ich.
"Oder Guinness," meinte Dylan.
"Weißt du, was Banshee Jumping ist?"
"Klar wenn man sich mit einem elastischen Seil an den Füßen
in die Tiefe stürzt."
"Ja, das kennt heute jeder. Aber woher das Wort kommt, wissen nur
Auserwählte."
"Ich nehme an, daß du mich gleich in diesen erlauchten Kreis
aufnehmen wirst."
"Die Banshee ist die Todesfee der alten Kelten."
"Was du nicht sagst!"
"Sie führt die Gestorbenen in die Anderwelt."
Die Anderwelt? Konnte dieser Esel nie eine Antwort geben, ohne daß
sich gleich wieder neue Fragen ergaben?
"Die Anderwelt ist der Himmel der Kelten. Aber nicht weit weg wie
bei den Christen, sondern hier und jetzt. All die Toten, die Feen und
Geister umgeben uns, ohne daß wir sie sehen könnten. Erst wenn
wir sterben, sind uns die Augen geöffnet."
"Wie poetisch!"
"Paß auf, hier kommt sie!"
"Wer?"
"Die Banshee."
"Ach du liebe Güte."
Vor uns sahen wir eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit,
wie sie nur Frauen besitzen, die zufrieden sind. Sie strahlte tiefe Ruhe
und Frieden aus. Sie war eine von den Frauen, bei deren Anblick man das
Gefühl hat, als ob man sie schon seit langer Zeit kenne, als sei
sie uns eine liebe Bekannte.
Sie kauerte auf einem Holzklotz vor einem Torffeuer und tauchte eine hölzerne
Schöpfkelle in einen Kessel, der über dem Feuer hing.
"Das ist die Feenkönigin," flüsterte Dylan mir zu.
"Die Titania?"
"Titania, Banshee, Fairy Queen ... Nenn sie wie du willst. Das ändert
nichts an der Sache.
Paß auf!"
Dylan ging ein paar Schritte auf die Frau zu, räusperte sich und
sprach: "Die Suppe riecht wirklich gut. Frau, wie heißt du?"
"Man nennt mich auch die Hüterin."
Dylan drehte sich zu mir um: "Siehst du, das ist eine Antwort."
Und in der Tat flößte mir diese geheimnisvolle Art zu reden
gehörigen Respekt ein. Offensichtlich kannten diese Frau viele Leute
und bedachten sie entsprechend mit verschiedenen Namen.
Sie wollte uns gerade zu einem Teller Suppe einladen und uns etwas über
die neuen Bebauungspläne für den Wetterauergrund erzählen,
aber wir zogen es doch vor, unseres Wegs zu ziehen.
"Auf diesen Wiesen werden sie riesige Häuser bauen!" rief
sie uns hinterher.
"Und Menschen, die sich dagegen auflehnen, wird man nicht nur auslachen,
sondern bedrohen und mundtot machen!" Ihre Stimme verwandelte sich
in ein grelles Gekrächze.
"They paid paradise, to put up a parking lot!" begann Dylan
zwischen geschlossenen Zähnen zu summen.
"Die Tore Edens werden fallen!" schrie sie, als sie gerade noch
in Hörweite war. Plötzlich verwandelte sie sich in eine Art
schwarze Madonna, Ledermontur mit dunklem Motorradhelm. Leichtfüßig
schwang sie sich auf eine Kawasaki, die im Gebüsch versteckt gestanden
hatte, und fuhr uns hinterher.
Dylan zuckte mit den Schultern. "Das scheint die Nacht der Metamorphosen
zu sein."
Als sie uns eingeholt hatte, zog sie ihren Helm ab, schüttelte ihr
halblanges blondes Haar, machte unter ihrem Motorrad-Handschuh eine öbszöne
Geste und zischte Dylan an: "Übrigens ich heiße Lou, du
Wichser!"
Auf dem Rücksitz saß eine gute Bekannte von mir, Anja, die
vor kurzem von Münster nach Laubach umgezogen war. Als sie mich erkannte,
sagte sie: "Ach Rolf, gut daß ich dich treffe, wenn ihr die
Julia (eine gemeinsame Bekannte, die eine Zeitlang bei Anja in ihrem neuen
Haus wohnte) hier irgendwo treffen solltet, dann kümmert euch doch
ein bißchen um sie, sie ist ziemlich neben der Kapp."
"Habt ihr wieder eure Fantasyspielchen im Laubacher Wald gemacht?"
"Gruß an Anna!"
Lou ließ den Motor ihrer Kawasaki aufheulen, und mit einem Kickstart
verschwanden die beiden in Richtung Landstraße, bis schließlich
der Scheinwerferkegel in einiger Entfernung nur noch wie ein tanzendes
Irrlicht aussah.
"Da hast du deine schöne Lau," sagte ich höhnisch
zu Dylan.
"Ja sogar mit Blautopf!" erwiderte er lachend.
Wir setzten unseren Weg fort.
"Die Tore Edens werden fallen," sinnierte Dylan, "das ist
ein gutes Thema für einen Song, findest du nicht?" "Erinnert
ein bißchen an James Dean, - Jenseits von Eden."
Ich begann zu intonieren:
"Die schwarze Motorradmadonna, die Zweirad-Feenkönigin."
"The motorcycle black madonna two-wheeled fairy queen.
Paß auf, gleich hab ich‘s."
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