Route 99
Der Titel enthält eine Anspielung auf den Rhythm n‘ Blues Klassiker
"Route 66", der die zweitausend Highwaymeilen von Chikago über
St. Louis, Oklahoma City, Amarillo, Flagstaff, über bis nach Los
Angeles in Californien besingt.
Route 66
Well if you ever plan to motor west
Just take my way that's the highway that's the best
Get your kicks on Route 66
Well it winds from Chicago to L.A.
More than 2000 miles all the way
Get your kicks on Route 66
Well it goes from St. Louis down to Missouri
Oklahoma city looks oh so pretty
You'll see Amarillo and Gallup, New Mexico
Flagstaff, Arizona don't forget Vernona
Winslow, Barstow, San Bernadino
Would you get hip to this kindly tip
And go take that California trip
Get your kicks on Route 66
Das Stück ist zum musikalischen Inbegriff der Gattung des road movie
geworden; man denkt zuerst an Jack Kerouacs "On the Road" auf
deutsch "Unterwegs", und wer nicht so belesen ist, kennt zum
mindesten den einen oder anderen der zahllosen Spielfilme, die dieses
Sujet variieren.
Die hier in Frage stehende Route 99 hatte ihren Ausgangspunkt in Stumpertenrod,
wo ich mit meinem treuen Esel Dylan das dortige Mühlenfest besucht
hatte. Auf diesem Volksfest gab es einen Bücherflohmarkt im Rahmen
einer Ausstellung zum Thema "Der Vogelsberg in der Literatur".
Da ich mir das nicht entgehen lassen wollte, hatte ich mich also am 20.
Juli 1999, dem Tag vor der Mittsommernacht, dorthin begeben und einige
Plastiktüten voll antiquarischer Bücher erworben. Zum Glück
hatte ich Dylan dabei, die schwere Last samt ihrer intellektuellen Bürde
hätte ich kaum alleine tragen können, jedenfalls nicht eine
ganze Nacht hindurch.
Als der Abend dämmerte, war es Zeit, den Rückweg anzutreten;
unser Ziel war Gießen, wo ich zu Hause bin, aber aus Gründen,
die Sie im Verlauf dieses Abends noch verstehen lernen werden, kamen wir
nur bis Laubach.
Es ging "die Krümme und die Quere", wie Apuleius sagt,
durch den Vogelsberg. Am Ortsausgang von Stumpertenrod ein Stück
bergan Richtung Ulrichstein; hinauf zum Windenergiepark Dreizehnmühlen.
Hier machte der Heilige Ulrich vom Ulrichstein gerade eine von der Firma
HessenWind gesponserte Führung zum Thema: "Die Entwicklung der
Windenergiegewinnung in Hessen, im besonderen im Naturpark Hoher Vogelsberg".
Jemand, der zufällig des Weges gekommen wäre, hätte Dylan
und mich in dem sich ins Unendliche dehnenden Sonnenuntergangsschatten
im Angesicht der turmhohen Ungetüme wohl für den Sancho Pansa
mit seinem namenlosen Esel aus dem Don Quixote des Cervantes halten mögen,
insbesondere, wenn er die entsprechenden Tuschskizzen Picassos oder die
vergleichbaren Ölstudien Dalís dabei erinnert hätte.
Wir ließen St. Ulrich samt seinem Ulrichstein links liegen und wandten
uns etwas seitwärts über sanft abfallende Felder. Mit Beginn
der Dunkelheit fielen alle Zäune auf den Weiden und an den Gärten,
und als wir an Oberseibertenrod vorüberkamen, bemerkte ich mit Erstaunen,
daß an buchstäblich jedem Gebäude, gleich ob Haus oder
Gehöft, ob Kirche oder Rathaus, ja selbst am Feuerwehrhaus, die Fenster
und Türen abgefallen waren. Sie lagen flach, aber immerhin unversehrt,
vor den dazugehörigen Wänden und Eingängen. Begrenzungsmauern
an Höfen und Gärten, einschließlich der Friedhofsmauer,
waren zwar nicht umgefallen, aber ihnen waren Stufen und Treppenabsätze
gewachsen, so daß man sie bequem übersteigen konnte. Sieht
man einmal von dem fernen Bellen eines Hofhundes ab, herschte überall
Totenstille; keine Menschenseele ließ sich blicken. Mir schwante
nichts Gutes.
Das ungute Gefühl, das mich beschlich, bewegte mich dazu, eine Route
zu wählen, die so wenig wie möglich Berührung mit bewohnten
oder behausten Gegenden ermöglichte. Nacheinander querten wir die
Ohm, den Gilgbach und den Streitbach und kamen schließlich an den
Petershainer Hof. Da ging es schon bald gegen Mitternacht.
Jetzt wanderten wir das Seenbachtal hinaus, durch den Kreuzseener Grund,
vorbei am Oberseener Hof, ebenso an der Höresmühle. Mein Esel
muß in seinem früheren Leben ein Mühlenesel gewesen sein
und wohl einige nicht besonders erfreuliche Erfahrungen mit Mehlsäcken
gemacht haben, denn er hatte nun genug von diesem Tal der Mühen und
der Mühlen. Da half kein Drohen und kein gutes Zureden, er ging einfach
keinen Schritt mehr weiter. Man kennt das ja bei Eseln.
Stattdessen zog es ihn seitlich ab vom Wege, immer nach links in Richtung
auf ein wirres Gestrüpp. Dabei entwickelte er eine solche Kraft,
daß ich ihn zuletzt nicht mehr halten konnte. Zweige schlugen mir
ins Gesicht, Dornhecken zerrten an meiner Jacke, über Stock und Stein
holperten wir eine kleine Anhöhe hinauf, durch Gräben und über
Erdaufwürfe polterten wir auf der anderen Seite wieder hinunter.
Ehe ich mich´s recht versah, fand ich mich in einer lieblichen Talaue
wieder, eingesäumt von dichtem finsterem Wald, und obwohl kein Mond
zu sehen war, schien das ganze Tälchen wie von einem wundersamen
fahlen Licht erleuchtet. Ganz deutlich konnte man mit den Augen die arabesk
verschlungene Wellenlinie verfolgen, die ein kleiner Bach durch die weißlich
schimmernden Wiesen zog.
"Das ist die Lau," sagte Dylan. "Wir sind nicht weit von
ihrer Quelle."
Vor Schreck wäre ich beinah von meinem Reittier gefallen, und es
dauerte eine Zeitlang, bis mir klar wurde, daß mein Grauschimmelchen
plötzlich die Gabe entwickelt hatte, mit Menschen zu kommunizieren.
Und noch dazu auf durchaus ansprechbarem geistigen Niveau.
"Ich denke, das ist die Wetter," erwiderte ich. "Die Lau
ist irgendwo in der Schwäbischen Alb, glaube ich."
"Da bringst du was durcheinander, du meinst die schöne Lau vom
Blautopf in Blaubeuren, das ist eine Sagenfigur, eine Quellnixe."
"Schon möglich, aber das hier ist hundertprozentig die Wetter
und nicht die Lau."
"Das ist aber doch dasselbe, du Narr."
"Wiiiieee?"
"Lau kommt von Laa und das ist ein uraltes Wort, das soviel wie Wasser
bedeutet. Auf dieses Wort geht z.B. auch die Lahn zurück."
"Ja und? Was beweist uns das?"
"Na ja, Wetter kommt auch von einem alten Wort, vada, das so viel
wie, dreimal darfst du raten, Wasser bedeutet, vgl. die Wortfamilie waten
baden waschen, water, wodka
Zu meiner Zeit hat man halt Lau, oder Laubach gesagt, seit der Christianisierung
des Vogelsberges sagt man halt Wetter."
"Meine Güte, mein kleines stummes Reiteselchen hat sich in ein
geschwätziges etymologisches Wörterbuch verwandelt! Was für
eine Metamorphose."
"A propos Reiteselchen. Wieviel wiegst du Fettwanst eigentlich?"
Ich nannte ihm eine Zahl, die ich hier vor Publikum nicht unbedingt zu
wiederholen brauche, aber soviel ist wohl nicht zu verbergen, daß
sie größer als hundert war.
Er nahm dies zum Anlaß, mich über das weitverbreitete menschliche
Vorurteil aufzuklären, daß der Esel ein Lasttier, Reittier
oder Zugtier sei. Ich mußte mir vorhalten lassen, daß ein
Esel keineswegs eine Ameise sei und daß er auf keinen Fall mehr
als ein Drittel seines Körpergewichts tragen könne, ohne Gefahr
zu laufen, daß seine körperliche Verfassung im wahrsten Sinne
des Wortes zu Schanden geritten werde.
Kurz und gut, der Metamorphose Dylans folgte eine zweite Metamorphose
auf den Fuß; war ich doch unversehens von einem Eselreiter zu einem
Eselführer mutiert und hatte den Rest des Weges von nun an zu Fuß
zurückzulegen.
Auf seinen Vorschlag hin, legten wir nun erst einmal ein Rast ein. Da
er sich in der Gegend gut auszukennen schien, fragte ich ihn, ob er wohl
früher schon einmal hier gewesen sei.
"Zum letzten Mal bei der Belagerung Laubachs."
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