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" Voll mit Einzelheiten sind jetzt alle Taschen" Von Michael Buselmeier Erschienen in: DIE ZEIT-Nr. 45 - 2. November 1990 Seit ich Peter Kurzecks detailbesessenen Roman "Keiner stirbt" gelesen habe, fällt mir ständig auf (in der Straßenbahn, beim Einkaufen und Gehen), wie sich die Alltagsmenschen in Kürzeln, halben Redewendungen, unvollständigen Sätzen ausdrücken - nicht anders als Personen in diesem Buch. Auch die herbstlich nasse Landstraße kommt darin vor, der Duft der Quitten und der Geschmack der Schlehen, diese weißen Knallbeeren, mit denen die Kinder jetzt wieder spielen. Und gewiß ist mir der Autor selbst schon auf Feldwegen begegnet, in den Weinbergen um Edenkoben (wo er als Stipendiat des "Künstlerhauses" an dem Roman schrieb), blaß, schmal, etwas gebeugt, den Blick nach innen gerichtet. Ein wenig wie Woyzeck kommt er mir vor. Das ist nicht so abwegig, denn Kurzeck, geboren 1943 in Böhmen, wuchs als Flüchtlingskind in einem oberhessischen Dorf auf, in der Nähe von Orten, die auch eine Bedeutung in Georg Büchners und Rektor Weidigs Lebensgeschichten haben, wie Gießen und Butzbach. Heute lebt er in Frankfurt. Der hessische (Büchnersche) Tonfall prägt alles, was er bisher veröffentlicht hat: vier dicke Romane. Doch zitiert Kurzeck nirgendwo wiedererkennbar Literarisches, und seine Figuren - arme Schlucker wie Woyzeck und Marie - stehen den schönen und gebildeten Kreisen fern. Es sind kleine Fünfziger-Jahre-Gauner, sanfte Säufer mit ihren Ticks und Obsessionen, Herumtreiber, in Gedanken von treuen Hunden und anderen guten Geistern begleitet, Elvis-Fans, Aufschneider, Reisende, Träumer - eine Ansammlung verkrachter Existenzen. Da ist Horst Meier ("Mit einem Gesicht, sagst du dir, er ist der ehrlichste Mensch, den du kennst"), Dachdecker, Schuhgröße 52, Besitzer eines alten Lastautos, Schrotthändler auch, spezialisiert auf halblegale Transporte, Gelegenheitsarbeiten, Landstraßennächte. Er hat Hände wie Dachziegel, wie Bratpfannen; ein Geschichtenerzähler und Schwindler. Auch der Crohn, ein gestrandeter kleiner Geschäftsmann, von seiner Frau verstoßen, an die Fünfzig, wirkt auf der Oberfläche immer vergnügt und spielt seine Rolle als hochstapelnder Ver-. kaufsdirektor am Ende fast souverän. Dagegen ist 'Klitters, ein vorbestrafter Handelsvertreter, Pessimist, zerstreut, blaß, mit Identitätsproblemen, stets wie auf der Flucht (»Immens sein Leben ein wachsendes Verlustgeschäft schon seit Jahren ..."). Hinzu kommen noch zwei Handelsvertreter, der Reitz und der Wolfram, die wenig Profil gewinnen, sowie Amisoldaten, Kneipenwirte, Bierstubenhocker, Tankwarte, Kinder, Kellnerinnen, Nutten, eine Putzfrau, ein Pfandleiher ein, alter, reaktionärer Bauer, der pathetisch die neue Zeit verflucht. Natürlich wollen (fast) alle schon morgen ein ganz anderes Leben beginnen und knirschen vor Einsamkeit mit den Zähnen. Das Buch spielt an vier Oktobertagen des Jahres 1959, zu einer Zeit, als Straßen und Häuser gerade noch etwas schmuddelig aussahen, als Gegenstände, Menschen und Berufe noch Reste einer Aura hatten; als man Fahrradhosenklammern trug, Opel Rekord fuhr, Eckstein und Overstolz rauchte, ins Lichtspielhaus ging. Die fünf Hauptpersonen finden sich zu einer Autofahrt auf der Bundesstraße 3 von Gießen nach Frankfurt (und wieder zurück) zusammen. Während sie von Ort zu Ort eine Kneipe nach der anderen aufsuchen, lässig Bier und Korn bestellen, Schaschlik und Würstchen verspeisen, ohne Geld in der Tasche, reihen sich in 46 kurzen Kapiteln die Episoden aneinander, Geschichten, Monologe; die Landstraße kommt ihnen entgegen, die Vergangenheit, Regen und Wind, sie hören AFN. Lockend am Horizont die Traumstadt: "Nach Frankfurt, da wird mit vielen Lichtern der Abend schon warten, da wartet das Geld." Noch sind die Wünsche vom großartigen Leben unbeschwert mit dem Autofahren verbunden, den dicken Amischlitten, dem gefüllten Tank; Schnaps pur aus der Flasche, und die Kippen zum Fenster rausgeschnipst. Der Erzähler erinnert ein längst abgerissenes Stadtviertel von Gießen, schweift, sich selber suchend, durch all die Winkel und Verstecke, die es für Außenseiter damals noch gab: "Beinahe wie nicht gewesen der Tag, das Jahr, das Leben." Die Angst vorm Verschwinden der Zeit, vor dem totalen Sinnverlust ist ein Leitmotiv des Buches. Das alte Frankfurter Bahnhofsviertel lebt wieder auf, ein Inventar der Straßen, Autos, Passanten, Schaufenster, Sonderangebote, Würstchenbuden, Kinos, Bierkneipen, Puffs; das Klappern der Stöckelschuhe auf dem Asphalt, die heilige Hure, ein weißer Ferrari! Ich denke, Kurzeck weiß selbst, daß .solche Nostalgie auch verharmlosend wirkt und alle möglichen Klischeevorstellungen über die fünfziger Jahre bestätigt. Andererseits gab es nun einmal diese faszinierende Subkultur der Amisoldaten, der Kellerkneipen, und wer als (Dorf-) Jugendlicher in anarchistischer Laune von ihr beruhe wurde, vergißt solche Bilder nie mehr. So poeti-siert Kurzeck das einstige Bahnhofsviertel zu einem Garten Eden und rettet damit (nicht nur) seine Utopie, so problematisch sie auch sein mag, vorm Vergessen: "Sind wir nicht alle einmal hier gegangen und der Tag war ein Fest? . . . Und du hast gewußt, du wirst nie sterben. Keiner stirbt! ... Jede Nutte hatte an diesem Abend ihr heiliges Leuchten." Kurzeck ist auch Chronist der heimatlichen Wetterau, Poet und Sammler, wie ein Kind, das auf dem Heimweg von der Schule trödelt und sich dabei vergißt: "Voll mit Einzelheiten sind jetzt alle Taschen." Er rückt nah heran an das Gewimmel, Geflimmer, die unscheinbaren Dinge,; reiht Hauptsatz an Hauptsatz, wechselnd zwischen Präsens, Imperfekt und Perfekt. Vor allem die. Sprache hält diesen Roman zusammen, eine assoziative Kunstsprache, die mit altertümlichen Wörtern, Wortwiederholungen, Dialekteinsprengseln, ,'ellip-tischen Sätzen kleinteilig operiert, das gleichzeitig Geschehende registrierend. Kurzeck schleift sich seine Sätze verquer zurecht, versetzt sie in schwingende Bewegung, manchmal sogar in daktylischen Rhythmus ("Verkehrsampeln gab es in Gießen noch kaum eine einzige damals"), schon laufen die Bilder Revue. Der Blickpunkt wechselt unmerklich vom Erzähler zu den vorgestellten Personen, die selber ohne Übergang zu sprechen und im inneren Monolog zu grübeln beginnen. In diese offene, an Joyce geschulte Erzählstruktur läßt sich vieles einfügen: Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken, Träume, todernste wie komische Formulierungen; die Leute quasseln durcheinander, Landschaften sausen vorbei. So entsteht in Schwerarbeit eine Art hessischer "Ulysses", passagenweise sperrig und ermüdend langatmig, sobald eben die Spannung, der Rhythmus, die Einfälle nachlassen. Der Leser wird mit Eindrücken überhäuft, von Bildern überschwemmt, die Kurzeck pausenlos heranschafft, statt sich zu beschränken. Diese Neigung zum tendenziell vollständigen Inventar ("Jedes Ding will benannt und immer wieder benannt sein!") mag aus der Angst resultieren, den "einzigen friedlichen Augenblick" zu verpassen, jenen hellen Moment der Poesie, in welchem die Zeit kurz angehalten wird: "Und die Stille, die Welt reicht rund um die Erde von ihr bis zu mir. Keine drei Schritte weit weg, da steht sie, ist der einzige Mensch auf der Welt und hat eben Kohlen aufs Feuer geschüttet." • Peter Kurzeck, "Keiner stirbt" (Roman) Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main 1990; 273 S., 38,- DM |
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