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Einleitung Die Arbeit untersucht in detaillierten, beinahe mikroskopischen Momentaufnahmen einige markante Aspekte verschiedener soziokultureller Modernisierungsprozesse auf theologischem, politischem und ästhetischem Gebiet, die sich während der tiefgreifenden Umbruchzeit in Deutschland um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu vollziehen begannen und die zu den wesentlichen Voraussetzungen der meisten gegenwärtigen Konzepte der Aneignung von Wirklichkeit zu rechnen sind. Denn was diesen letzteren Punkt betrifft, ist kaum ernsthaft zu bestreiten, daß die zum Teil auf traumatische Weise nachwirkenden Erfahrungen der über weite Strecken krisenhaften Erfahrungen der Umbruchzeit bis auf die heutige Zeit die kulturelle Identität der bundesdeutschen Öffentlichkeit prägen. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, die überregionalen mentalitätsgeschichtlichen Veränderungsprozesse in einer Mikrostudie begrenzt auf einen bestimmten Ort, i. e. auf die Stadt Gießen und ihr Umland, in den Blick zu nehmen und einige ihrer markanten lokalen Spezifika und Charakteristika in ihren regionalen und überregionalen Bedingungen und Auswirkungen zu dokumentieren und zu bewerten. Die krisenhaften Erfahrungen, die die bildungsbürgerliche Öffentlichkeit um 1800 zu verarbeiten hatte, prägen auch das literarische und kulturelle Leben der Stadt Gießen1 im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Sie artikulieren sich hier in einer für die zu untersuchende Epoche geradezu merkmalhaften Streitkultur, d. h. einem spezifischen, äußerst kontrovers geführten Diskurs, der beschleunigend auf die Zirkulation der Ideen einwirkte, die Epoche der Aufklärung an ihre Grenze trieb und eine teilweise völlig neue Orientierung und Identitätsfindung des einzelnen Subjekts hervorrufen sollte. Gegenstand der Untersuchungen ist nicht eine eigentliche Stadtgeschichte lokalhistorischen Zuschnitts, sondern die Diskursgeschichte verschiedener, mehr oder weniger repräsentativer Personen, die den bildungsbürgerlichen Kreisen der Stadt zuzurechnen sind, bzw. der sie umgebenden Region der zu der Landgrafschaft und dem späteren Großherzogtum Hessen-Darmstadt gehörenden Provinz Oberhessen. Methodisch wird dieser Ansatz in einer Art von 'Juxtapositionierung' von fünf soziokulturell konstitutiven Ereignissen verfolgt, die sich, indem sie sich vor dem vergleichenden Blick aufreihen, ihrer scheinbaren Isoliertheit entheben und die in ihrer Bezogenheit aufeinander und in ihren wechselseitigen Überblendungen vorgestellt und analysiert werden können. Vielleicht ist es angesichts der fortschreitenden Aufarbeitung des Regional- und Heimatkomplexes2 und in Anbetracht der damit einhergehenden Rehabilitation und wachsenden Anerkennung regionalwissenschaftlicher Forschungen heutigentags nicht mehr nötig, eigens darauf hinzuweisen, daß die topologische Verortung der zu untersuchenden Ereignisse in der mittelhessischen3, speziell Gießener kulturellen Identität mitnichten lokalgeschichtlich in einem engeren, vordergründigen Sinne, und schon gar nicht lokalpatriotisch4 motiviert ist. Vielmehr wird das im folgenden zu dokumentierende Forschungsunterfangen von der Einsicht in die nüchterne Tatsache gelenkt, daß die Art, wie einer der zentralen Konflikte der Spätaufklärung ausgetragen wurde, - und damit ist schon einer der grundlegenden Nachweise benannt, die die vorliegende Arbeit führt, - eben in der strukturellen Bedingtheit der Gießener Verhältnisse5 begründet liegt. Denn gerade hier, in der Hauptstadt der hessen-darmstädtischen Provinz Oberhessen, inszenieren sich die Konflikte in einem oft pathosgeladenen, operettenhaften6 Gestus und spitzen sich die Konfrontationslagen in einer bisweilen karikaturesken Schärfe zu. Daß das latente Konfliktpotential der Umbruchzeit, das andernorts weitaus unterschwelliger sedimentiert war, gerade in Gießen in einer unverblümten Deutlichkeit zu Tage trat, macht den Reiz des in der vorliegenden Arbeit behandelten Gegenstandes aus. Da außerdem dem Gießener Streitdiskurs, - und das ist ein weiterer zentraler Nachweis, den die vorliegende Arbeit erbringt, - über weite Strecken die Funktion einer Initialzündung für den nationalen und z. T. sogar europaweiten Konflikt zwischen Spätaufklärung und Gegenaufklärung zukam, wird die Arbeit in einen allgemeineren Bedeutungszusammenhang gehoben, der den Rahmen einer ausschließlich regionalhistorisch interessierten Rezeption überschreitet, - so jedenfalls die Intention des Verfassers. Die das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit konstituierende Leitunterscheidung zwischen Spätaufklärung und Gegenaufklärung kommt im engeren Sinne vor allem in den ersten beiden Kapiteln zum Tragen. Das erste Kapitel befaßt sich nämlich mit dem Scheitern der Versuche des Theologen und Schriftstellers Karl Friedrich Bahrdt, seine progressive Aufklärungstheologie während seines Aufenthaltes in Gießen 1771-1775 im Bewußtsein der regionalen Öffentlichkeit zu verankern. Dahingegen hat das zweite Kapitel das Auswandern des ursprünglich theologischen Konflikts in den säkularisierten Bereich der politisch motivierten Verschwörungstheorie Ludwig Adolf Christian von Grolmans im Vorfeld und während der Französischen Revolution zum Gegenstand. Im dritten Kapitel, das innerhalb des vorliegenden Bandes die Funktion eines Angelpunktes zwischen den Ereignissen des 18. und denen des 19. Jahrhunderts einnimmt, verschiebt sich die Leitdifferenz hin zur Frage der Romantisierungstendenzen in der Rezeption der Frankfurter Kaiserkrönungen von 1790 und 1792 am Beispiel zweier unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster des Gießener Festteilnehmers August Friedrich Wilhelm Crome. Die historische Mythologisierung des Wartburgfestes 1817 und ihre Kehrseite, die von Ferdinand Maßmann inszenierte Bücherverbrennung, dienen im vierten Kapitel als Folie dafür, das komplizierte Verhältnis der sogenannten 'Gießener Schwarzen', der radikalpolitischen Studentengruppe um den charismatischen 'Ideologen' und Privatdozenten Karl Follen, zu beleuchten. Im fünften Kapitel schließlich wird am Beispiel des spätromantischen Kunstmalers und Porträtisten der 'Darmstädter und Gießener Schwarzen' Carl Sandhaas das Verhältnis von politischem Radikalismus der 'Schwarzen' zu dem ästhetischen Programm des Darmstädter und zeitweise Gießener Künstler- und Freundeskreises um Friedrich Maximilian Hessemer und Georg Gottfried Gervinus aufgedeckt und einer kritischen Bewertung unterzogen. Jede einzelne der fünf im weitesten Sinne gießenspezifischen Einblendungen in den generellen religiösen, politischen und ästhetischen Diskurs während der Spätphase der sogenannten Sattelzeit in Deutschland basiert auf der Auswertung neu entdeckter Archivalien und Materialien und stellt sich quer zu überkommenen Legendenbildungen und verzerrten Interpretationsmustern. Um die z. T. ungewöhnlichen und möglicherweise provokanten Ansätze kritischer Neubewertung zu stützen, wird auf die detaillierte Dokumentation des unveröffentlichten oder schwer zugänglichen Materials großer Wert gelegt. Die Ausführlichkeit, in der das Quellenmaterial präsentiert wird, begründet sich daraus, daß damit Lücken im gegenwärtigen Forschungsstand geschlossen werden sollen.7 Aufgrund der hier unterbreiteten Materialfülle wird sich eine in der Zukunft noch zu verfassende quellenbezogene Geschichte der literarischen und kulturellen Identität Mittelhessens an den Wegmarken orientieren können, die durch die vorliegende Arbeit werden. Um gleichermaßen einen Einstieg in die hier überwiegend praktizierte Technik der Detailanalyse von unveröffentlichtem oder schwer zugänglichem Quellenmaterial wie auch einen punktuellen, schlaglichtartigen Eindruck des soziokulturellen Bedingungsfeldes zu vermitteln, in dem der in der vorliegenden Arbeit analysierte Streitdiskurs topologisch angesiedelt ist, sei an dieser Stelle eine Briefpassage zur Kenntnis gebracht, die gleich in mehrfacher Hinsicht geeignet ist, einige der in diesem Zusammenhang heranzuziehenden Hintergründe wie in einem Brennglas zu bündeln und deutlich werden zu lassen: Herrn RegierungsRath von Halem Wohlgebohren. Verzeihung L[ieber] F[reund] für mein langes Zaudern. Ich habe in meinem neuen Amte mehr Arbeit gefunden, als ich erwartete u[nd] mehr Beyfall, als ich mir versprechen durfte. Lange waren meine Wissenschaften in G[ießen] nicht gelehrt worden, deshalb alles mich überhäufte: Studenten, Honoratiores aus der Stadt, vom Lande, von der Regierung, u[nd] selbst Damen besuchen meine historisch-statistischen Collegia. Das alles machte mir viel Arbeit u[nd] Zerstreuung, wobey ich meine auswärtigen Freunde um Nachsicht, u[nd] meine Buchhändler um Geduld bitten muß. - Indeß will ich alles nachholen, u[nd] allen meine Schuld abzutragen suchen. G[ießen] ist, wie Sie gar recht bemerkten, ein artiger und gefälliger Ort, der, außer der Univ[ersität] noch eine stark besezte Regierung, Consistor[ium] und Cammer hat, nebst dem Kriegs-Regiment, zur Garnison. Dies alles giebt der Stadt Leben und Wohlstand. - Unsere Studentenzahl überschreitet 200 nicht, doch habe ich 80. davon im Collegio, u[nd] das ist genug. Wezlar ist eine höchst angenehme Nachbarschaft, u[nd] der H[err] v[on] Riedesel, mir daselbst ein schäzbarer Mann. Marburg liegt uns zu nahe, als Rival, sonst aber mancher schäzbarer Männer wegen, mir lieb. Frankfurt und Darmstadt erreicht man in einem Tage; so daß also unsere Nachbarschaft nicht besser seyn kann. - Jetzt eben sehe ich, daß Sie selbst unsere Gegend, von Wezlar aus, kennen: deshalb nichts Neues hören. - Von Berlin aber, kann ich Ihnen warlich nichts Neues sagen, was sie nicht schon wüßten; da die preußischen Nachrichten jetzt viel zu spät an mich kommen [...]. Bei dem vorliegenden Ausschnitt aus einem Brief des nicht allzulange Zeit vorher auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften und Kameralistik nach Gießen berufenen August Friedrich Wilhelm Crome an den Schriftsteller Gerhard Anton von Halem in Oldenburg,8 datiert Gießen, den 21. Juli 1787, ist, so unscheinbar die zitierte Passage auf den ersten Blick anmutet, von einer gewissen Repräsentanz und in hohem Maße aufschlußreich für die soziokulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sich das Gießener Bildungsbürgertum zur Zeit der Spätaufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert einzurichten wußte. Es lohnt sich daher, einige in dem zitierten Briefausschnitt angedeuteten Zusammenhänge näher unter die Lupe zu nehmen. Universitätsgeschichtlich wertvoll ist der Brief nicht zuletzt wegen der statistischen Angaben zu den Studentenzahlen, deren Zuverlässigkeit besonders deswegen anzunehmen ist, weil Crome derjenige ist, der in Gießen der Statistik als staatswissenschaftlicher Fachrichtung zum Durchbruch verholfen hat und also ein Fachmann auf diesem Gebiet ist.9 Ganz im Stil der damals neuen Gattung einer geographisch-statistisch-topographischen Beschreibung ist es für Crome selbstverständlich, seinem Freund im fernen Oldenburg über die Verhältnisse in Gießen aufzuklären. In dieser Hinsicht ist die Briefpassage also symptomatisch für einen Briefwechsel zwischen zwei Repräsentanten der deutschen Spätaufklärung. Bemerkenswert präzise hebt Crome in bezug auf seine neue Wirkungsstätte hervor, was man soziologischen als semiperiphere Identität bezeichnet. Die Stadt, soziokulturell geprägt von den in ihr angesiedelten Institutionen (Provinzialregierung, Konsistorium, Universität und Garnison), stand in einem Spannungsverhältnis zu dem ökonomisch rückständigen, agrarwirtschaftlich bestimmten Umland einerseits und zu den wirtschaftlich potenten Metropolen, allen voran Frankfurt am Main, andererseits. Der geographischen Mittellage, die die Stadt bei zunehmendem Ausbau der Verkehrslinien zu einem Verkehrsort mit einem hohen Strom an Durchreisenden avancieren ließ, entsprach eine kulturelle Mittelmäßigkeit, die innerhalb der Bildungsbürgerschicht der Stadt eine gewisse Bereitschaft förderte, sich überregional zu vernetzen. Dies war vor allem durch die Korrespondenz- und Lesegesellschaften möglich geworden, die sich zur Zeit der Spätaufklärung zunehmender Beliebtheit erfreuten. In den geselligen Kreisen vor Ort wurden dann die Korrespondenzen mit den oft weit im Reich verstreuten Briefpartnern untereinander ausgetauscht. Wie verschlungen und komplex diese Korrespondenzwege sein konnten, ist im vorliegenden Fall beispielsweise daran zu erkennen, daß der Oldenburger Halem von dem Neu-Gießener Crome Informationen über die aktuelle politische Entwicklung in Berlin einzuholen versucht. Hinter dem einen Satz im Brief Cromes, der sich auf Halems Anfrage bezieht, verbirgt sich ein Gebäude von Implikationen, das die ganze Tragweite des Briefwechsels zwischen Crome und Halem deutlich werden läßt. Crome hatte nämlich, u. a. durch seinen Onkel und geistigen Ziehvater, den Geographen Anton Friedrich Büsching, intensive Beziehungen zum Berliner Aufklärerkreis um Friedrich Nicolai. Mit dem am 17.8.1786 erfolgten Regierungsantritt Friedrich Wilhelm II. waren die Berliner Gelehrtenkreise höchst verunsichert worden und hatten um ihren Einfluß in der Berliner Hofgesellschaft bangen müssen. Unter dem Einfluß der dem extrem konservativen Rosenkreuzerorden angehörenden Minister Wöllner und Bischoffwerder bereitete nämlich der König der frederizianisch-rationalistischen Aufklärungspolitik seines Vorgängers ein Ende. Hinter der Anfrage Halems stand also die von beiden Briefpartnern geteilte Sorge um das zu befürchtende Ende des aufklärerischen Frühlings in Preußen. Die zitierte Briefpassage gibt weiterhin Aufschluß darüber, daß Crome, als er sein Amt in Gießen antrat, von den Voraussetzungen profitierte, die sein Vorgänger geschaffen hatte, denn bereits der vormals wegen seiner physiokratischen Experimente berühmt gewordene Kameralist August Schlettwein hatte seinen damals neu geschaffenen Lehrstuhl für Politikwissenschaften über den eigentlichen akademischen Rahmen hinaus für die Gießener nichtakademische Bildungsbürgerschicht geöffnet. Die von Schlettwein eingeführte Gewohnheit, auch Frauen an seinen Kollegien teilnehmen zu lassen, wurde also, wie der Brief belegt, von seinem Nachfolger Crome beibehalten. Es ist wohl gerechtfertigt, wenn man annimmt, daß in diesen Weiterbildungsveranstaltungen für Frauen die Wurzeln für die bald darauf eingerichtete Gießener Frauenlesegesellschaft zu sehen sind. Aus den Briefen von Cromes Schwester Christiane an Halem wissen wir z. B., daß das Lesekränzchen, dem sie angehörte, u. a. Halems Wallenstein-Drama las und gemeinsam diskutierte. Bemerkenswert sind die Hinweise, die der Crome-Brief über die Interferenzen zwischen der durch das dort angesiedelte Reichskammergericht soziokulturell geprägten Nachbarstadt Wetzlar und der oberhessischen Universitätsstadt Gießen enthält, zumal die Intensität dieses Wechselverhältnisses in der Forschung umstritten ist. Wie sehr das literarische Leben der Region durch die Anwesenheit von Dichter-Juristen am benachbarten Reichskammergericht beeinflußt wurde, bedürfte einer eigenen Untersuchung, die neben der Praktikantenzeit Goethes auch die anderer, nicht ganz so strahlender Geistesheroen in den Blick zu nehmen hätte, beispielsweise Gerhard Anton von Halem, auf dessen Praktikantenzeit in Wetzlar10 Crome sich in dem vorliegenden Brief bezieht. Von besonderem Interesse ist auch die Erwähnung des Assessors am Reichskammergericht Karl Georg von Riedesel, der in der Verbreitung des radikalaufklärerischen Illuminatenordens in der Region und für die Entstehungsgeschichte der Gießener Freimaurerloge eine Schlüsselrolle spielt.11 Die Erwähnung von Riedesels ist ein Indiz dafür, daß Crome von Beginn seines Aufenthaltes in Gießen an intensive Kontakte zu den aufgeklärten Mitgliedern des Wetzlarer Reichskammergerichts suchte, ein Zusammenhang, der sich übrigens im Briefwechsel Cromes ebenso niederschlägt wie in verschiedenen Veröffentlichungen Cromes, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann. Mit den vorstehenden skizzenhaften Erläuterungen zu der zitierten Passage des Crome-Briefes vom 21. Juli 1787 sollte ein vorläufiger, schlaglichtartiger Blick auf die lokalen Rahmenbedingungen geworfen werden, unter denen die im folgenden vorzustellenden Akteure ihren Streit zwischen Spätaufklärung und Gegenaufklärung in Szene setzten. _________________________________________________________ 2 Vgl. zu dem spezifisch literarischen Aspekt dieses Umwertungsprozesses, zu der Wiederentdeckung des Prinzips Heimat als Konfiguration der Gegenwartsliteratur und zu den ungleichzeitigen Literaturräumen des Regionalismus in kultur- und literaturgeschichtlicher Perspektive: Norbert Mecklenburg: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München 1986. Die Geltung der regionalen Fragestellung ist seit den Grundüberlegungen Mecklenburgs innerhalb der Literaturwissenschaft inzwischen unbestritten. Die vorliegende Arbeit profitiert von den literatur-, geschichts- und wissenschaftstheoretischen Schlußfolgerungen, die Mecklenburg in Hinsicht auf die regionale Dimension von Literatur, auf die Bedeutung des Raumes für die Literaturgeschichte und auf den Stellenwert dieser Dimension im Gesamtzusammenhang der Literaturwissenschaft anstellt. Vgl. speziell hierzu: Norbert Mecklenburg: Literaturräume. Thesen zur regionalen Dimension deutscher Literaturgeschichte. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München 1985, S. 197-211. - Die Fachbereiche für Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Gießen und Marburg haben in einem mehrjährigen gemeinsamen, vom Hessischen Wissenschaftsministerium geförderten Projekt des Landesforschungsschwerpunktprogrammes sich mit der Erforschung des Literarischen und kulturellen Lebens im mittelhessischen Raum, - so der offizielle Titel des Projekts, - befaßt, umfangreiche Grundlagenarbeit in dieser Thematik geleistet und wesentliche Denkanstöße für eine wissenschaftliche Neuorientierung gegeben. Sichtbares Ergebnis dieser intensiven Forschungstätigkeit ist u. a., neben der hier vorgelegten Arbeit, vor allem der von den geistigen Mentoren des Forschungsprojekts Gerhard R. Kaiser und Gerhard Kurz herausgegebene Band Literarisches Leben in Oberhessen, der als Band 11 der Gießener Diskurse 1993 in Gießen erschienen ist. 3 Zur Begriffskritik von 'Oberhessen', 'Mittelhessen', 'Zentralhessen', die 'Mitte Hessens' vgl.: Peter Moraw: Die Mitte Hessens vom 17. zum 20. Jahrhundert. Aus der politischen, Sozial- und Bildungsgeschichte. In: Gerhard R. Kaiser und Gerhard Kurz (Hrsg.): Literarisches Leben in Oberhessen. Gießen 1993, S. 9-32, hier S. 11 f. 4 Im Gegenteil war es eines der zentralen Anliegen der vorliegenden Arbeit, den Wust der zahlreichen, meist ideologisch eingefärbten und/oder lokalpatriotisch motivierten Legendenbildungen zu lichten und ideologiekritisch zu hinterfragen, soweit die durch die Luftangriffe der Alliierten am Ende des Zweiten Weltkrieges stark dezimierte Quellenlage dies noch zuließ. 5 Zu der eigentümlichen Mentalitätsgeschichte des sich unter semiperipheren Bedingungen emanzipierenden Bildungsbürgertums Gießens vgl. Peter Moraw: Die Mitte Hessens vom 17. zum 20. Jahrhundert. Aus der politischen, Sozial- und Bildungsgeschichte. In: Gerhard R. Kaiser und Gerhard Kurz (Hrsg.): Literarisches Leben in Oberhessen. Gießen 1993, S. 9-32. - Marita Baumgarten: Vom Gelehrten zum Wissenschaftler. Studien zum Lehrkörper einer kleinen Universität am Beispiel der Ludoviciana Gießen (1815-1914). Gießen 1988. - Rolf Haaser: Als Darmstadt und Kassel wie Magnete wirkten. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 28. Frankfurter Ausgabe, April 1990, S. 1251 f. 6 Diese von Moraw in seinen vorgenannten Gießen-Studien vor allem mit Blick auf die Gießen betreffenden Implikationen der Revolution von 1848/49 geprägte Charakterisierung läßt sich, wie im folgenden nachzulesen ist, auch für den in der vorliegenden Arbeit gewählten Untersuchungszeitraum in Anspruch nehmen. 7 Was hier hinsichtlich der handschriftlichen Archivalien gesagt ist, gilt in entsprechender Form für eine Reihe bibliographischer Zusammenstellungen; so ist in die Literaturliste beispielsweise eine vollständige Bibliographie der frühen Anti-Bahrdt-Polemiken ebenso eingearbeitet wie eine eigene komplette Bibliographie der Primärliteratur von Grolmans und Cromes. 8 Der zitierte Brief ist ein Bestandteil eines rund zwanzig unveröffentlichte Briefe Cromes und seiner Schwester Christiane an von Halem umfassenden Korpus, der in der Landesbibliothek Oldenburg aufbewahrt wird. Eine von mir angefertigte, ausführlich kommentierte Transskription der Briefe liegt in einer 80-seitigen Typoskriptfassung vor und ist unter dem Titel Geschichte des Herzogtums Oldenburg vs. Staatsverwaltung von Toskana. Die Briefe von Christiane und August Friedrich Wilhelm Crome an Gherhard Anton von Halem aus dessen Briefnachlaß in der Landesbibliothek Oldenburg im Mittelhessischen Literaturarchiv am Fachbereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen abgelegt. 9 Als Indiz für seine innovative und umfangreiche Beschäftigung mit Fragen der Bevölkerungsstatistik mögen folgende Veröffentlichungen Cromes dienen: Neue Producten-Karte von Europa. Dessau und Leipzig 1782. Europens Produkte. Zum Gebrauch der neuen Produkten-Karte von Europa. Dessau 1782. Etwas über die Größe, Volksmenge, Klima und Fruchtbarkeit des Nord-Amerikanischen Frei-Staats. In: Ephemeriden der Menschheit, oder Bibliothek der Sittenlehre, der Politik und der Gesezgebung. 5. Stck., Mai 1783, S. 511-553. Etwas über die Größe, Volksmenge, Klima und Fruchtbarkeit des Nord-Amerikanischen Frei-Staats. Dessau und Leipzig 1783. Ueber den blühenden Zustand des russischen Reichs. Dessau und Berlin 1783. Geographisch-Statistische Beschreibung von den Niederlanden, mit einer neuen Charte von Belgien und von der Schelde. Leipzig 1783. Über den aufblühenden nordamerikanischen Freistaat. 1784. Über die Größe und Bevölkerung der sämtlichen europäischen Staaten. Ein Beytrag zur Kenntniß der Staatenverhältnisse, und zur Erklärung der neuen Größen-Karte von Europa. Leipzig 1785. Statistisch-geographische Beschreibung der sämtlichen Oestereichischen Niederlande, oder des Burgundischen Kreises; welche diese Staaten, sowohl in Ansehung ihrer Lage und natürlichen Beschaffenheit, als in Betref ihres Fabrik- und Handlungswesens, auch ihrer Religions- und Staatsverfassung, vor Augen legt: Mit einer Neuen Karte von dem ganzen Burgundischen Kreise überhaupt, auf welcher der Lauf der Schelde, mit allen ihren Verbindungen und Ausflüssen, wie auch die angrenzenden holländischen Provinzen, vollständig erscheinen. Dessau und Leipzig 1785. Ueber die Kulturverhältnisse der Europäischen Staaten. Ein Versuch mittelst Größe und Bevölkerung den Grad der Kultur der Länder Europas zu bestimmen. Leipzig 1792. 10 Halem hatte sein Praktikum am höchsten deutschen Reichsgericht im Frühsommer 1770 absolviert. Vgl.: Gerhard Anton von Halem's Selbstbiographie nebst einer Sammlung von Briefen an ihn. Hrsg. v. C. F. Strackerjan. Oldenburg 1840, S. 53 f.: "In Wetzlar wohnte ich im Hause des Doctors und Kammergerichtsprocurators von Bostell. Der alte joviale Mann wohnte mit seinem Sohne, der kurz vorher eine sehr schöne Frau geheyrathet hatte, und mit einem Schiegersohne, beyde Cammergerichts-Advocaten, in Einem neuerbaueten Hause. Ich war einige Monathe lang Mitglied dieser glücklichen Familie. Am Morgen hörte ich mit acht andern Practicanten, unter denen sich auch zwey Grafen befanden, bey dem Doctor von Bostell ein Collegium über das Jus camerale nach Tafinger's Lehrbuch. Er gab uns gedruckte Proceß-Acten, aus denen wir Extracte machten und referirten. Auch besuchte ich die Schreibstube und die Audientien. Abends war ich auf Spaziergängen, oder in der Französischen Comödie, oder in Privatconcerten, die mitunter im Bostellschen Hause gegeben wurden, oder in andern Gesellschaften, in welche die Bostellsche Familie geladen ward. Etwas genirt waren freylich diese Gesellschaften, in denen man immer, nach damaliger Sitte, chapeau bas und mit dem Degen an der Seite erscheinen mußte." |
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