Wissenschaftliche Publikationen | Texte | Spätaufklärung und Gegenaufklärung |
Der Ausgangspunkt:
die Dozententätigkeit Karl Friedrich Bahrdts in Gießen 1771
bis 1775 Es beruht daher durchaus auf einer inneren Stringenz, daß Bahrdt als Person, sein individueller Lebensstil und seine familiären Verhältnisse in einer Weise an die Öffentlichkeit gezerrt wurden, durch die die Praktiken der heutigen Boulevardpresse vorweggenommen scheinen. Die Verleumdungen, Beschimpfungen und verketzernden Herabwürdigungen, mit denen Bahrdt in einem unvergleichlichen und für die damalige Zeit bis dahin ungekannten Ausmaß bedacht wird, markieren eine historische Umbruchsituation, in der die aufklärerische Gelehrtenrepublik unter Schmerzen von einer ihrer zentralen Grundvoraussetzungen Abschied nimmt, nämlich von dem Modell des 'reinen' Diskurses zur Beförderung von Wahrheit auf dem Wege der sachlichen Auseinandersetzung. Gesellschaftspolitische Indizien für diese Umbruchsituation sind die Selbstvergewisserungskämpfe der Freimaurerei und Geheimgesellschaften sowie die Strukturierung der politischen Parteibildung über den traditionellen Nordsüd-Antagonismus und über die bis dahin dominierende Religionszugehörigkeit hinaus. Beides, die Neuorganisationsbestrebungen der Geheimgesellschaften und die Herausbildung einer neuen politischen Parteienlandschaft, sind Parameter für den krisenhaften Zustand der deutschen Spätaufklärung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, und in beiden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nimmt das publizistische Oeuvre Bahrdts einen nicht wegzudenkenden Stellenwert ein. Bereits vor dem Beginn der Französischen Revolution ist ein großer Teil der Mitglieder der Gelehrtenrepublik gezwungen, in der sich wandelnden gesellschaftspolitischen Landschaft Position zu beziehen, und viele tun dies in Auseinandersetzung mit den Texten und Projekten, die Bahrdt in Umlauf setzt. Dies gilt vor allem in bezug auf die notwendig gewordene Vergewisserung dessen, was überhaupt Aufklärung ausmache, und ist letztendlich mit dafür verantwortlich, daß die bislang sich als geschlossen begreifende Bewegung in verschiedene Richtungen spätaufklärerischer Modifikationsversuche des Aufklärungskonzepts aufzuspalten beginnt, bis hin zur Herausbildung einer dezidiert gegenaufklärerischen Position, die sich weitgehend aus ehemaligen, z. T. sogar äußerst prononcierten Verfechtern der Aufklärung rekrutierte. Die zunehmende Polemisierung und Personalisierung des Aufklärungsdiskurses läßt sich geradezu paradigmatisch anhand der publizistischen Auseinandersetzung um Bahrdt demonstrieren. Sehr zum Nachteil der Forschung hat sich die voreingenommene und unsachliche Polemik gegen Bahrdt in zahlreichen historischen, biographischen, literatur-, kultur- und religionsgeschichtlichen Arbeiten niedergeschlagen und seine Rolle als Initiator von radikalaufklärerischen Projekten und Ideengeber der deutschen Spätaufklärung in einem schiefen Licht erscheinen lassen. Eine lange Zeit hindurch ist daher eine vorurteilsfreiere Einschätzung der literarischen, historischen und politischen Bedeutung Bahrdts beeinträchtigt gewesen, eine Entwicklung, die sich z. T. bis in unsere Zeit hinein fortgesetzt hat. Daß sich dennoch die Bahrdt-Forschung inzwischen von den überkommenen Vorurteilsstrukturen befreit hat und zu einer längst überfälligen Neubewertung der Rolle Bahrdts als einem der radikalsten und revolutionärsten deutschen Aufklärer durchgestiegen ist, ist vor allem dem Kulturhistoriker Günter Mühlpfordt in Halle zu verdanken, dessen zahlreiche Studien insbesondere zu der von Bahrdt ins Leben gerufenen radikalen Korrespondenzgesellschaft, der sogenannten Deutschen Union, Maßstäbe gesetzt haben. Betrachtet man die Vita des ebenso berühmten wie berüchtigten aufklärerischen Schriftstellers Karl Friedrich Bahrdt, so erscheint der Abschnitt seiner Biographie, der durch seine Tätigkeit als Theologieprofessor an der hessen-darmstädtischen Landesuniversität in Gießen ausgefüllt wird, der Zeitraum zwischen 1771 und 1775 nämlich, als eine vergleichsweise viel zu kurze Frist, um mehr denn einen eher vorübergehender Abstecher von peripherer Bedeutung für seine geistige Entwicklung ausmachen zu können. Auch umgekehrt hat sich die Forschung bislang kaum der Mühe unterworfen, Anzeichen oder Belege zu sammeln, die geeignet wären, die Gießener Lehrtätigkeit Bahrdts oder seine während dieser Zeit entstandenen Schriften im Lichte ihrer Wirkung auf das literarische und kulturelle Leben der Stadt erscheinen zu lassen. Dies hängt nicht zuletzt mit der nahezu einhelligen Ablehnung der Person Bahrdts und der durch sie repräsentierten radikalen Reformideen seitens der Historiographen und Biographen zusammen, und gerade die Gießener Lokalhistorie hat ihre Schwierigkeiten mit dem sogenannten 'enfant terrible' der Aufklärung bis in die jüngste Zeit hinein kaum verhehlen können.4 Bestandteil der Legendenbildung um Bahrdts Gießener Episode ist ihre Reduktion auf einen vorübergehenden Lapsus der Universitätsgeschichte, der durch das energische Intervenieren der Behörden in einer Art von Selbstheilungsprozeß rechtzeitig korrigiert werden konnte, bevor Stadt oder Universität einen ernstzunehmenden Schaden davongetragen hätten. So war man bislang auch weit davon entfernt, einen Zusammenhang mit dem weitaus später, gegen Ende der achtziger Jahre von Bahrdt verfolgten Projekt einer radikaldemokratischen Aufklärungsgesellschaft der Deutschen Union in den Blick zu nehmen, und dies obwohl immerhin seit Degenhard Potts Edition des Bahrdtschen Briefwechsels5 eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft in der oberhessischen Provinzialhauptstadt und deren Umland nachgewiesen ist. Der vorliegende Beitrag versucht, gestützt auf unveröffentlichtes Material, die bislang verborgenen Fäden der Bahrdt-Rezeption in Gießen vom Beginn seines Aufenthaltes in der Stadt bis zu seinem Lebensende aufzugreifen und die unterschwellige Kontinuität der Wirkung Bahrdts und seiner Ideen in der mittelhessischen Region nachzuzeichnen. Dabei wird deutlich werden, daß die Ideenzirkulation der Spätaufklärung in der Auseinandersetzung mit Bahrdt auch und gerade in der geographischen, kulturellen und politischen Semiperipherie Gießens in einem Maße beschleunigt wurde, die für den größten Teil der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit eine Neuordnung des eigenen Ideengebäudes und damit eine Revision ihres politischen Selbstverständnisses nach sich zog. Die im Zuge dieser Beschleunigung ausgetragenen Grabenkämpfe zwischen den aufbrechenden Konfliktparteien führen in Gießen zu einem polemisch zugespitzten Streitdiskurs zwischen einer in sich selbst nicht sehr geschlossenen Fraktion der Vertreter der Spätaufklärung einerseits und einer Kerngruppe des gegenaufklärerischen Obskurantismus andererseits. Beide Gruppierungen zeichnen sich durch eine sich widerstreitende Bahrdt-Rezeption aus, die ihnen zur Definition der jeweils eigenen Positionen dient. Die für den Kreis des gegenaufklärerischen Obskurantismus charakteristischen Konturen einer solchen Bahrdt-Rezeption, die vorderhand durch eine ablehnende Haltung, teilweise mit ausgeprägten Zügen einer geschlossenen Anti-Bahrdt-Front, gekennzeichnet ist, haben ihren Ursprung in der Zeit unmittelbar vor dem Erscheinen Bahrdts in Gießen, als die Universität begann, ihre Berufungsverhandlungen zur Besetzung der freigewordenen Theologieprofessur zu führen. Von hier an zieht sich eine ununterbrochene Linie der Anti-Bahrdtpolemik bis weit nach dessen Tod durch, die zunächst Bahrdt aus seinem Gießener Lehrstuhl verdrängte, damit nicht genug bei jeder sich später bietenden Gelegenheit mit einer nicht versiegenden Häme ihm zu schaden bestrebt war, seine Deutsche Union als ein verschwörerisches Projekt der Illuminaten denunzierte, Bahrdt selbst als einen den Altären und Thronen gleichermaßen gefährlichen Schädling brandmarkte und seine Festungshaft, ja selbst noch sein Abscheiden aus dem zeitlichen Leben, mit niederträchtiger Genugtuung zur Kenntnis nahm. Die wichtigsten Protagonisten dieser zeitlebens anhaltenden Diffamierungskampagne sind der lutherisch-orthodoxe Ordinarius der Gießener theologischen Fakultät und Superintendent Johann Hermann Benner, der Pädagogiarch und Professor der Geschichte Heinrich Martin Gottfried Köster und vor allem der Gießener Regierungs- und Konsistorialdirektor Ludwig Adolf Christian von Grolman, die in einer kaum noch überschaubaren Fülle von Veröffentlichungen es nicht satt werden konnten, gegen Bahrdt und seine Parteigänger zu Felde zu ziehen. Durch die Entdeckung und Neugewichtung archivalischer Quellen können nun eine ganze Reihe anonymer Rezensionen, Aufsätze und Veröffentlichungen als Bestandteile der aus diesem Personenkreis heraus inszenierten Hetzkampagne gegen Bahrdt benannt und zugeordnet werden, wobei insbesondere das von L. A. C. von Grolman in die Welt gesetzte Diffamierungsnetzwerk eine erhebliche, teilweise sogar europaweite Breitenstreuung erzielte und eine nachhaltige Wirkung für das bis in unsere Zeit hinein wirksam gebliebene Bahrdt-Bild zeitigen sollte. Weit entfernt von einer solchen Wirkmächtigkeit sind die Freunde und Parteigänger Bahrdts in Gießen, meist Mitglieder der Deutschen Union, als deren hervorragendste Repräsentanten die Professoren August Friedrich Wilhelm Crome und Johann Wilhelm Friedrich Hezel anzusehen sind, in gewissem Sinne auch der Dillenburger Justizrat Karl von Knoblauch, der enge Bindungen zu diesem Gießener Aufklärerkreis unterhielt. Allesamt sahen sich diese Anhänger der Aufklärungsideen Bahrdts in Gießen den Gesinnungsschnüffeleien und den schikanösen Diffamierungen durch ihre Gegner ausgesetzt und wurden mehr als einmal in politischen Untersuchungsprozessen zur Rechenschaft gezogen, die aufgrund der aus dem Lager der Aufklärungsgegner heraus angezettelten Denunziationen gegen sie angestrengt worden waren.
Wie dem auch sei, der sonntägliche Kirchgang versprach diesmal, neben der gewohnten religiösen Erbauung, ein besonderes Schauspiel. Wie würde der als Ketzer verschriene neue Prediger sich aus der Affäre ziehen, wie würde sich der alte Superintendent Benner verhalten, würde er seinen Zorn darüber im Zaume halten können, daß er sich seit mehr als einem halben Jahr erfolglos gegen die Berufung Bahrdts gesträubt und alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt hatte, die drohende Katastrophe abzuwenden? Und zwischen beiden der Theologieprofessor Bechtold, der Drahtzieher hinter der Affäre, der, nur um selbst die Karriereleiter hinaufzusteigen, die Berufung Bahrdts betrieben hatte. Oder der junge und ehrgeizige Prediger Schwarz, der sich vergebliche Hoffnungen auf die nun von Bahrdt besetzte Stelle gemacht hatte. Würde man den Beteiligten die Spannungen anmerken, die zwischen ihnen bestanden? Nach Bahrdts eigener Schilderung war die Gemeinde durch die im Vorfeld betriebene Meinungsmache vollkommen gegen ihn eingenommen, doch sei es ihm gelungen, durch eine mit viel religiösem Pathos vorgetragene Predigt die Stimmung zu seinen Gunsten zu wenden. Bahrdts außergewöhnliches Talent als Prediger wird ihm selbst von seinen Gegnern zugestanden. Ein Augenzeuge der Gießener Antrittspredigt, wahrscheinlich der Jurist Ludwig Julius Friedrich Höpfner, bestätigt dies ausdrücklich und gibt eine ausführliche Beschreibung von Bahrdts Predigtstil.6 Auch sein etwas breiter sächsischer Akzent soll der Wirkung keinen Abbruch getan haben. Selbst Bahrdts Frau soll, wenn man ihrem Bruder glauben darf, ihre Liebe zu Bahrdt während einer seiner Predigten entdeckt haben.7 Bechtold, der Bahrdt über die in Oberhessen üblichen Besonderheiten und Gepflogenheiten im Ablauf des Gottesdienstes instruiert hatte, hatte es versäumt - Bahrdt selbst meint in böswilliger Absicht -, ihm mitzuteilen, daß der Segen in Gießen gesprochen, und nicht, wie im Sächsischen der Brauch war, gesungen wurde, so daß eine für Bahrdt etwas peinliche Situation entstand. Anlaß genug jedenfalls, um den bereits erwähnten Johann Georg Gottlob Schwarz anschließend in der Sakristei zu der Äußerung gegenüber Benner zu bewegen: "Er hat den Segen gesungen, er wird das Amen weinen."8 Die eher dürftige Ausstattung mit Quellen zur Geschichte des 18.Jahrhunderts, mit der die mittelhessische Regionalhistorie und insbesondere die Gießener Lokalgeschichtsschreibung auskommen muß, steht in krassem Gegensatz zu der vergleichsweise üppigen Fülle, mit der die knapp vier Jahre belegt sind, in denen Karl Friedrich Bahrdt sich in Gießen aufhielt. Die epische Breite, mit der sich der in der Exposition des vorliegenden Aufsatzes skizzierte Antrittsgottesdienst schildern ließe, könnte gleich auf drei verschiedene Gewährsleute mit unterschiedlichen Perspektiven und Positionen zurückgreifen, eine Vielfalt, die man sonst für den Gießener Bereich in diesem Jahrhundert vergeblich suchen wird. Die außerordentliche Publizität,9 die nahezu jeden Schritt Bahrdts begleitet, erscheint aus heutiger Sicht um so weniger nachvollziehbar, wenn man den vergleichsweise wenig spektakulären Hergang seines Aufenthaltes in Gießen dagegenhält. Mitte Mai 1771 kam Bahrdt von Erfurt über Leipzig, wo er sich von seinen Eltern verabschiedet hatte, nach Gießen, gegen den Widerstand des Kopfes der hessischen lutherischen Orthodoxie Johann Hermann Benner, der schon vor Bahrdts Ankunft die öffentliche Meinung gegen den 'Ketzer' mobilisiert hatte. Kanzel und Katheder wurden von beiden Seiten als Forum für Sticheleien, Spötteleien und ironische Anspielungen gegen den jeweiligen Gegner genutzt, während sich gleichzeitig ein umfangreicher Kleinkrieg gewissermaßen auf dem Dienstweg über die Universitätsbehörde, die Kirchenverwaltung und das Ministerium in Darmstadt entspann. Im Herbst 1771 versuchte Bahrdt, die traditionell mit der Gießener Professorenschaft verbundene, zwischenzeitlich aber darniederliegende Frankfurter gelehrte Zeitungen wieder in Gang zu bringen, wurde aber durch den Darmstädter Kriegsrat Johann Heinrich Merck im letzten Moment ausgebootet, der die Redaktion des u.a. durch die Mitarbeit Goethes und Herders berühmt gewordenen Jahrgangs 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen - so der neue Titel des Rezensionsorgans - übernahm. Nachdem Benner, der unermüdlich gegen Bahrdt arbeitete, gesehen hatte, daß auf der Universitätsebene nurmehr wenig gegen den von Darmstadt aus protegierten Gegner zu unternehmen war, wollte er zumindest im kirchlichen Bereich den Einfluß Bahrdts gering halten. Er mobilisierte das Konsistorium gegen Bahrdt und versuchte, ein von Bahrdt angestrebtes Assessorat beim Konsistorium zu hintertreiben, was ihm aber nicht gelang. Das sicherste Mittel, einen mißliebigen Kollegen beim Landgrafen in Mißkredit zu bringen, war es, wenn man dessen liebstes Spielzeug, das Militär, tangierte. Am meisten schadete sich Bahrdt dann auch, als er sich wegen einer Kleinigkeit in einen Konflikt mit einem Gießener Offizier ziehen ließ. Im Jahr 1772 begannen die verfeindeten Parteien zudem, sich in publizistischen Streitschriften zu befehden, wobei der Ton zunehmend schärfer wurde. Ein von Bahrdt projektiertes Predigerseminar wurde zwar eingerichtet, die Leitung aber zu seinem Ärger seinem Kollegen Schulz übertragen. Bei einem Besuch des Landgrafen in Gießen konnte Bahrdt seine besondere Fähigkeit ins Spiel bringen, im persönlichen Umgang seinen Gesprächspartner für sich einzunehmen. Das Wohlwollen des Landgrafen, das Bahrdt sich bei dieser Gelegenheit sichern konnte, sollte ihm im Gießener Intrigenspiel noch eine ganze Zeit lang den Rücken stärken. Mit dem folgenden Jahr (1773) trat Bahrdt in der Nachfolge Mercks die Redaktion der Frankfurter gelehrten Anzeigen an und übernahm 1774 die in Mietau erscheinende Allgemeine theologische Bibliothek. Nach dem Tode der Landgräfin, in deren Gunst Bahrdt ebenfalls gestanden hatte, nutzte der Darmstädter Erstminister Friedrich Karl von Moser, der gleichzeitig Kurator der Universität war, eine neuerliche öffentliche Kampagne gegen Bahrdt, ihn aus Gießen abzuschieben. Bahrdt, der inzwischen das Angebot zur Leitung einer philanthropischen Erziehungsanstalt in der Schweiz in der Tasche hatte, ließ sich auf einen Stellenpoker mit Moser ein, indem er sehr hohe und, wie sich herausstellte, überzogene Forderungen für seinen Verbleib in Gießen stellte. Auch der Landgraf, der inzwischen von seinem Feldprediger Venator gegen Bahrdt eingenommen worden zu sein scheint, versuchte nicht mehr, Bahrdt in Gießen zu halten.
Durch Immediatgesuche beim Landgrafen, der wegen seines Mißtrauens gegenüber den Zivilbeamten nur allzu geneigt war, allen möglichen Einflüsterungen ein offenes Ohr zu schenken, konnten ganze Entscheidungsprozesse des Ministerialkollegiums relativ leicht außer Kraft gesetzt werden. Hinzu kam eine äußerst fatale Finanzlage, die das Regieren in Hessen-Darmstadt zur Gratwanderung werden ließ. Die Ablösung des Darmstädter Erstministers Andreas Peter Hesse durch Friedrich Karl von Moser im Jahr 1772 hat diese zerrüttete Situation der Staatsfinanzen zum Hintergrund. Moser sollte durch ein umfangreiches Reformprogramm den Staatshaushalt konsolidieren, eine Aufgabe, an der er trotz zahlreicher ökonomischer und verwaltungstechnischer Verbesserungen letztendlich scheitern sollte. Die andere Schiene, auf der man den drohenden Staatsbankrott abzuwehren suchte, war die Heiratspolitik der Landgräfin, die äußerst pragmatisch und geschickt zu Werke ging. Bahrdts Berufung nach Gießen stand, und zwar wesentlicher, als die bisherige Forschungsliteratur bemerkt hat, in ihren politischen Implikationen im Zusammenhang mit den Plänen der Landgräfin, eine ihrer Töchter - die Wahl fiel später auf Wilhelmine, - mit dem russischen Großfürsten Paul zu vermählen. Dabei sollte im Planspiel der Landgräfin Bahrdt offensichtlich eine Schlüsselrolle bei der äußerst problematischen Frage eines damit für die Prinzessin unumgänglichen Religionswechsels zukommen. Bereits am 30.Okt. 1771 konnte Bahrdts Vater seinem Sohn gegenüber einen solchen Zusammenhang andeuten: Daß die Landgräfin dich der Toleranz wegen so ästimirt, hat vielleicht außer dem jetzigen allgemeinen Geschmack, auch seine besonderen Ursachen, die ich nur noch als ein Geheimniß erfahren habe - und dir kaum soviel zu sagen getraue, daß du vielleicht gar noch über eine Angelegenheit des Gewissens könntest zu Rathe gezogen werden, die eine Religionsveränderung betrifft, zu deren Entscheidung dir Platons Schrift dienen könnte.10 Mit diesen Hinweisen zeigte sich der ältere Bahrdt in bemerkenswert hohem Maße informiert, denn der Darmstädter Hof war noch bis in das Jahr 1773 hinein um strikte Geheimhaltung der Angelegenheit bemüht.11 Außerdem zeugte der Rat von Bahrdts Vater, sich in diesem Zusammenhang über die Schrift des Petersburger Erzbischofs Jeremach Platon: Rechtgläubige Lehre oder kurzer Auszug der christlichen Theologie, zum Gebrauch S.K.H. des Großfürsten Paul Petrowitsch. (Riga 1770) kundig zu machen, von äußerster Sachkenntnis, denn es sollte derselbe Metropolitan Platon sein, der 1773 tatsächlich den Religionswechsel der Darmstädter Prinzessin vorzubereiten und zu vollziehen hatte.12 Hermann Bräuning-Oktavio vermutet, der im Zusammenhang mit den russischen Heiratsplänen notwendige Religionswechsel mochte "im Lichte von Bahrdts Toleranzidee weniger bedenklich erscheinen".13 Die Landgräfin selbst verfügte hinsichtlich der Frage der Religionszugehörigkeit allerdings über ein unproblematisch tolerantes Selbstverständnis. Man müsse, so das Selbstbekenntnis Carolines in einem alles andere als unverbindlichen Brief an Barbara von Zuckmantel, "praktische Nächstenliebe üben, wobei es gar nicht so sehr darauf ankommt, ob sie christlich ist oder nicht, dergestalt, daß man das Gute um seiner selbst willen tut. Diese Vorstellungen, in denen ich leben und sterben will, sind mein Bekenntnis."14 Mit einer solchen Einstellung wäre der erforderliche Religionswechsel der Prinzessin Wilhelmine kein großes Problem gewesen, wenn nicht der Landgraf insofern Schwierigkeiten gemacht hätte, daß er keine Anstalten zeigte, in einen Religionswechsel seiner Tochter einzustimmen. Sein verlängerter Arm in Darmstadt war in dieser Hinsicht der Hofprediger und Erzieher der Prinzessinnen Ludwig Benjamin Ouvrier, dessen vor wenigen Jahren aus Familienbesitz veröffentlichter Autobiographie wir nähere Aufschlüsse über diese Zusammenhänge verdanken.15 Als Ouvrier, der ein strikter Gegner des Religionswechsels seiner Schülerin war, erfuhr, daß von ihm verfertigte Charakterschilderungen der Prinzessinnen zwecks Beförderung der projektierten Vermählung zusammen mit eigens angefertigten Porträts der Heiratskandidatinnen nach Petersburg geschickt worden waren, fühlte er sich hintergangen: Weil ich es vermutete und selbst durch die Prinzessin Amalie erfuhr, was es war, hielt ich es für meine Pflicht, die Prinzessinnen und besonders Wilhelmine wohl zu belehren. Ich ging also die letzte Zeit meines Unterrichts bei denselben die russische Geschichte durch und zeigte ihnen das Schlüpfrige und Gefährliche dieses Thrones. Auch erklärte ich ihr die griechische Religion, und die Verbindlichkeit, der Wahrheit treu zu sein.16 Noch am Tag vor der Abreise der Darmstädter Hochzeitsgesellschaft nach Petersburg versuchte Ouvrier, der eigens von Gießen nach Darmstadt geeilt war, die Standhaftigkeit der Prinzessin Wilhelmine hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit zu beschwören: Vor der Abreise ging ich von Gießen nach Darmstadt und nahm den Tag der Abreise und morgends kurz vor derselben Gelegenheit, die Prinzessin, auf die nach meiner Vermutung ohnehalber die Wahl fallen würde, in ihrem Kabinett zu erinnern, was sie Gott und der Wahrheit schuldig sei. Sie tröstete mich damit, daß ich nichts zu befürchten habe und selbst ihr Herr Vater ihr diese Lehre gegeben. Sie habe die Versicherung, wenn sie gewählt werden würde, ihre Religion ungekränkt zu behalten.17 Es hat den Anschein, als ob der angebliche Verzicht der russischen Seite auf den Religionswechsel vorgeschoben wurde, um den Landgrafen zu beruhigen, denn schon bald nach der Ankunft in Petersburg wurden die notwendigen Schritte eingeleitet.18 Insgeheim hatte die Landgräfin ihre Einwilligung zum Übertritt der Prinzessin zur griechisch-katholischen Staatsreligion erteilt, ohne daß der Landgraf befragt worden war. Entsprechend aufgebracht war der Landgraf dann auch, als der Kurier mit der offiziellen Werbung in Pirmasens eintraf. In seiner Empörung jagte er Moser im Eiltempo nach Petersburg, doch aufzuhalten vermochte er nichts mehr. Vieles spricht dafür, daß Bahrdt ursprünglich dazu ausersehen war, den Landgrafen wo möglich von der Notwendigkeit eines Religionswechsels der Prinzessin zu überzeugen oder wenigstens seinen Vorbehalten die Spitze zu nehmen. Daß gerade Bahrdt dazu die besten Voraussetzungen mitbrachte, liegt auf der Hand, wobei nicht nur sein Toleranzbegriff den Anforderungen entsprach. Er war auch als Mensch genau der Typ, um auf den eigenartigen und eigenwilligen Charakter des Landgrafen den nötigen Eindruck zu machen, was sich im übrigen beim Besuch des Landgrafen in Gießen bestätigen sollte. In Anbetracht der Sachlage war die vermutlich von dem Kurator der Universität Andreas Peter Hesse ausgeklügelte Vorgehensweise genial, zunächst Bahrdt auf die theologische Professur nach Gießen in Wartestellung zu bringen und ihn zu gegebenem Anlaß im Austausch mit dem in Darmstadt zum Problem werdenden Ouvrier zur Verfügung zu haben. Die Schwierigkeit lag einzig darin, beim Landgrafen keinen Verdacht über die wahren Beweggründe des Stellenkarussells zu erwecken. Die Versetzung Ouvriers nahm, wie er selbst berichtet, die Landgräfin persönlich in die Hand.19 Die Hoffnungen, die sich Bahrdt auf die Hofpredigerstelle in Darmstadt machte, dürften also ihren realen Hintergrund gehabt haben, ohne daß er sich unter den gegebenen Umständen auf konkrete Zusagen hätte berufen können.20 Als Bahrdt wenige Wochen vor der Abreise der Landgräfin am 1.März 1773 um die durch den Abgang Ouvriers freigewordene Hofpredigerstelle einkam, zog Moser, der inzwischen Hesse als Erstminister und Kurator der Universität abgelöst hatte, nicht mit und zeigte sich über die 'Anmaßung' Bahrdts empört. Auf sein Gutachten hin verschob der Landgraf die Neubesetzung der Stelle und erklärte Bahrdts Gesuch für unstatthaft. Ob Moser in die Pläne der Landgräfin eingeweiht war oder nicht, sei dahingestellt. Durch eine von ihm unterstützte Berufung Bahrdts nach Darmstadt hätte er jedenfalls leicht in eine prekäre Lage geraten können. In dieser Situation dürften die Gießener theologischen Streitereien ein willkommener Anlaß gewesen sein, Bahrdts Anwartschaft auf die Hofpredigerstelle ein für allemal im Keim zu ersticken.21 Die Konfusion in Gießen hinsichtlich der Besoldungen und der Predigerwohnungen - Bahrdt mußte Ouvrier seine bereits von ihm bezogene Wohnung räumen und vertrieb nun seinerseits Schwarz aus dessen Wohnung,22 - wäre vor dem skizzierten Hintergrund weniger als ein unbeabsichtigtes Versehen Hesses zu betrachten als vielmehr die zwangsläufige Folge der Durchkreuzung seiner Pläne.
Für den engeren akademischen Bereich waren darüber hinaus für die hier interessierende Zeit vor allem Kontakte nach Göttingen und Erfurt von Bedeutung. Die Geschicke der Universität lagen zunächst einmal in der Hand des Kurators, der gleichzeitig der Erstminister in Darmstadt war. Zwischen 1771 und 1775 waren dies, wie schon erwähnt, erst Hesse und dann Moser. Dennoch war die Position der Akademie durch eine weitgehend in Eigenregie betriebene Finanzpolitik sehr stark, - Bahrdt rekurriert darauf in der Geschichte seines Lebens (Bd. 2, S. 156 f.). Die Gießener Universität war u.a. ein relativ unabhängiges Wirtschaftsunternehmen; ein großer Teil der Besoldung der Professoren bestand aus Naturalien, vor allem Getreide, womit sich ein schwunghafter und besonders in Zeiten der Teuerung profitabler Handel treiben ließ. Die Personal- und Besoldungsentscheidungen im Bereich der Universität tangierten die fundamentalen Interessen der Professorenschaft insgesamt, die auch bei der Vergabe der zahlreichen Nebenämter ein entscheidendes Wort mitzureden hatte. Daß ein solches System der weitgehenden Selbstverwaltung nicht nur seine Vorteile hatte, wie Bahrdt glauben machen will, liegt auf der Hand, und die zahlreichen Zänkereien und Intrigen innerhalb der Gießener Professorenschaft waren nicht zuletzt bereits in der ökonomischen Verwaltungsstruktur der Universität angelegt. Wissenschaftsgeschichtlich fällt Bahrdts Aufenthalt in Gießen in eine Umbruchzeit, in der die traditionelle Prädominanz der Theologie durch die Jurisprudenz abgelöst zu werden begann, eine Entwicklung, die in der Person des aufgeschlossenen und energischen Juristen und Kanzlers der Universität Johann Christoph Koch sinnfällig war. Gleichzeitig war Moser bestrebt, die Kameralistik grundlegend zu erneuern. Er hatte nämlich erkannt, daß seine angestrebte Verwaltungsreform einen Beamtentypus erforderte, der mit den neuesten wirtschaftswissenschaftlichen und statistischen Kenntnissen vertraut war. Bereits unmittelbar nach seiner Amtsübernahme hatte Moser versucht, einen der bedeutendsten Statistiker der Zeit, den Göttinger Professor Beckmann, nach Gießen zu ziehen. Nach einem zwischenzeitlichen Rückschlag durch den Mißgriff der Berufung Kösters, der den in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu entsprechen vermochte, resultierte dann aus diesen Bemühungen Mosers die Gründung der ersten ökonomischen Fakultät in Deutschland unter der Ägide des Physiokraten Schlettwein. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung erscheinen die Streitigkeiten innerhalb der theologischen Fakultät als Ausdruck ihrer Krise, als Grabenkämpfe eines längst überfälligen Rückzuges der in ihren Grundfesten bedrohten lutherischen Orthodoxie. Als solche mußte Bahrdt die Angriffe gegen seine Person auch ansehen. Die ihm häufig zugeschriebene Überheblichkeit in diesen Auseinandersetzungen sind seinem Wissen um den Anachronismus der gegen ihn vorgebrachten Argumente und Polemiken zuzuschreiben. Im Vergleich zum Entwicklungsstand der theologischen Wissenschaften im übrigen Deutschland galt es in Gießen, versäumte Lektionen nachzuarbeiten.23 Die theologische Fakultät in Gießen, an ihrer Spitze der bald 80jährige Benner, hatte sich in einer mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Auseinandersetzung mit dem Pietismus zur Hochburg der lutherischen Orthodoxie entwickelt und ihre Vormachtstellung behauptet.24 Die Berufung ausgerechnet Bahrdts auf einen theologischen Lehrstuhl nach Gießen wurde in der deutschen Öffentlichkeit mit neugierigem Unverständnis aufgenommen und stellte für die etablierte Gießener Geistlichkeit eine enorme Provokation dar. In Bahrdts Geschichte seines Lebens ist an verschiedenen Stellen vom 'Ton' die Rede, der z.B. in Erfurt oder Gießen geherrscht habe. Dieser äußerst vielschichtige Begriff ist mit der heute geläufigen Wendung 'Umgangston' nur unzureichend charakterisiert. Zur Erläuterung ist ein Zusammenhang in Betracht zu ziehen, auf den Klaus Epstein in seiner Studie über die Anfänge des Konservativismus in Deutschland aufmerksam gemacht hat. Als eine der zentralen sozialpsychologischen Kategorien, die eine Konsolidierung der konservativen Bewegung in Gang setzten, kristallisiert er nämlich heraus, daß die Weltanschauung der Aufklärung "im wesentlichen einen Sieg diesseitiger, materialistischer und hedonistischer Werte über die Jenseitsorientierung, den Spiritualismus und Asketismus der christlichen Tradition brachte."25 Die freie Denkweise radikaler Aufklärer wie Bahrdt und ihre größere Bereitschaft, überkommene Formen und Inhalte fundamental in Zweifel zu ziehen, schlug sich auch auf ihr gesellschaftliches Verhalten nieder. Bahrdt suchte den persönlichen Kontakt zu Kreisen, die sich durch Freizügigkeit und Ausschweifung mit einem avantgardistischen Flair umgaben und sich in einer Rolle gefielen, in der sie durch provokatives Auftreten ihre konservative Umgebung zu schockieren wußten. Dies äußerte sich nicht nur in einer Enttabuisierung der Sprache, sondern auch in einer partiellen Überschreitung sexueller Schranken. Bahrdts Schwierigkeiten mit seiner Ehefrau, die in solchen Verhaltensweisen eine Bedrohung ihrer sozialen Stellung sah, sind daher unmittelbar verständlich, und selbst ein psychischer Krankheitszustand der Bahrdtin, wie er von Bahrdt behauptet und von Volland bestritten wird, wäre angesichts ihrer fundamentalen Verunsicherung ohne weiteres einsehbar. Daß im Zusammenhang mit Bahrdts Hedonismus auch eine sozialkritische Komponente eine Rolle spielte, verrät uns wiederum vermutlich Höpfner als Gießener Gewährsmann Schlichtegrolls: Einst kam Graf Zech, Chursächs. Subdelegatus bey der Kammergerichts-Visitation zu Wetzlar, nach Gießen, um B. zu hören. Er war entzückt über die Predigt und machte B. einen Besuch. Nach einigen Gesprächen bot B. dem Grafen eine Partie L'Hombre an. Der Graf, ein sehr religiöser Mann, nahm diess sehr übel, da er es nicht nur für unschicklich für einen Prediger hielt, sondern es auch ganz gegen den guten Ton war, einem Manne von Stande bey der ersten Visite ein Spiel anzubieten.26 Eine solche soziale 'Unbotmäßigkeit' läßt sich am ehesten als eine Jovialisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen verstehen. Soweit diese in halboffiziellen Zusammenhängen zum Tragen kommt, verbindet sich mit ihr eine Tendenz zur Nichtachtung tradierter gesellschaftlicher Normen. Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt man, wenn man die Curialia analysiert. Bräuning-Oktavio hat die Devotionsfloskeln in den Briefen Bahrdts im Vergleich zu den "Wortungeheuern eines anmaßenden reichsstädtischen Kanzleistils" Goethes und Schlossers als "leidlich erträglich"27 charakterisiert. Vergleicht man damit die weitere Entwicklung hin zu dem Gießener Personenkreis, der der Deutschen Union nahestand, so läßt sich der Befund noch vertiefen, wo eine Reduzierung der Curialien teilweise bis zur geradezu trotzig anmutenden bloßen Namensnennung feststellbar ist.28 Folgt man den verschiedenen Augenzeugenberichten, so waren es in Gießen auf seiten der Professoren besonders Baumer und Koch, die sich neben Bahrdt des freieren Umgangstones befleißigten, doch zählten zu der 'Bahrdtischen Partei', wie der Personenkreis im Zuge der zunehmenden Polarisierung genannt wurde, etwa hundert Studenten 29 und ein großer Teil der oberhessischen Geistlichkeit.30 Für die Gießener Gerüchteküche 31 war Bahrdt ein gefundenes Fressen. In der Stadt kursierten gedruckte Spottgedichte auf Bahrdt32, und häufigere Besuche im benachbarten Wetzlar, wo durch das dort angesiedelte Reichskammergericht auch der Bordellbetrieb florierte, waren Anlaß genug, Bahrdt ins Gerede zu bringen.33 Ebenso waren die akademischen Katzbalgereien, die sich die Mitglieder der theologischen Fakultät leisteten, stadtbekannt. Kaum ein Bericht über Bahrdts Gießener Zeit versäumte es, die eine oder andere Anekdote, die Bahrdt sich leistete, vorzutragen, so daß sich mit der Zeit das Bild eines notorischen Stänkerers verhärtete.34 Bereits ein kurzer Blick auf die Vorlesungsverzeichnisse dieser Zeit zeigt aber, daß solche Provokationen durchaus auf Gegenseitigkeit beruhten. So kündigte Benner für das Sommersemester 1772 "öffentliche Disputirübungen gegen den Socianismus"35 an, die er unter folgender Bemerkung im Wintersemester fortzusetzen gedachte: "Bey der Erklärung der Geschichte des Socianismi, worinn er fortfahren wird, wird er sich bemühen, die Apostel dieser Sekte, und die entgegengesetzte Schriften zu nennen, auch die beste Methode angeben, wie diesem Unsinn zu steuren seye."36 Auch der pflichtschuldige Schwarz bot eine außerordentliche Vorlesung über Benners Dogmatik an, bei der er durchgängig darauf sehen wollte, "daß er den Gegnern, insbesondere den Anfällen der Socinianer begegne", und wollte wöchentlich einige Stunden einem "Antideistico" widmen.37 Im Sommersemester wollte Benner laut Ankündigung die Dogmatik, "und zwar keine populäre sondern eine gründliche, und durchaus mit Erläuterung der Beweißstellen begleitete lesen, weilen er es für Schande für einen künftigen Lehrer der Religion, für die Wiedersacher aber sehr erwünscht hält, nichts mehr als populäre Kenntnisse zu haben."38 Um die Tragweite dieser kaum noch verhüllten Seitenhiebe gegen Bahrdt, die im Rahmen von Vorlesungsankündigungen völlig unerhört waren, richtig einschätzen zu können, muß man berücksichtigen, daß sie nicht nur im Giesser Wochenblatt, sondern üblicherweise auch in auswärtigen Zeitungen erschienen. Auch aus den Schwarzschen Reminiszenzen läßt sich ersehen, daß Bahrdt, was Sticheleien und Neckereien gegen Kollegen angeht, keineswegs alleine dastand.39 Die Lehrtätigkeit Bahrdts in Gießen ist vor allem durch zwei Schwerpunkte gekennzeichnet, durch die dem erstarrten akademischen Lehrbetrieb der theologischen Fakultät neue Impulse gesetzt wurden: die Nutzbarmachung philologischer und historischer Kenntnisse für die Interpretation der Bibel und die praktische Verbesserung des Predigtwesens. In beiden Bereichen setzte Bahrdt Akzente, die auch noch nach seinem Abzug aus Gießen ihre Wirksamkeit behielten.40 Der Zeitraum, während dessen Bahrdt sich in Gießen aufhielt, zeichnet sich vor allem durch eine äußerst fruchtbare schriftstellerische und publizistische Tätigkeit Bahrdts41 aus, angefangen vom Verfassen von Rezensionen und Programmen, über die Redaktion der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und der Allgemeinen theologischen Bibliothek, über die Herausgabe mehrerer Schriften Gerstenbergs, die Redaktion und Publikation eingesandter Beiträge zu seinen, den zeitgenössischen Diskurs der Aufklärungstheologie widerspiegelnden Sammelwerken, bis hin zu verschiedenen eigenen selbständigen Veröffentlichungen aus dem Themenbereich der Theologie. Darüber hinaus hatte er, wenn man Volland glauben darf, bereits in Gießen seine Autobiographie begonnen, angeblich um seiner Frau im Falle unvorhergesehener Ereignisse eine Altersversorgung zu sichern.42 Aus dieser umfangreichen Schriftstellerei ragen vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion drei Komplexe heraus, die hier kurz zu berühren sind. Der erste Bereich umfaßt die in ihren Anfängen noch auf die Erfurter Zeit zurückgehenden Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz (2 Bde. 1770/1771) und gewissermaßen deren Fortsetzung, die Vorschläge zur Aufklärung und Berichtigung des Lehrbegriffs Unserer Kirche (2 Bde. 1771/1773), die wegen ihres unverhohlenen Anspruchs, die evangelische Kirche von innen heraus radikal zu verändern, der lutherischen Orthodoxie, namentlich Benner, als äußerst gefährlich erschienen. Kaum minder provokativ war Bahrdts Edition eines Werkes von einem seiner Erfurter Freunde, Jakob Heinrich von Gerstenberg, mit dem Titel Eden, das ist, Betrachtungen über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten (1772)43, dessen Anliegen in erster Linie es war, die Existenz des Teufels zu bestreiten, eine Tendenz, die von Bahrdt in der Vorrede (S. 11 f) besonders herausgestrichen wurde: "Solte die Religion nicht vielmehr gewinnen, wenn wir durch allmählige Verwandlung dieser Hypothese [daß der Teufel lediglich die Personifikation eines abstrakten Begriffes sei] in Wahrheit, die ganze Lehre vom Teufel aus der christlichen Kirche zu verbannen, die Menschen von ihrem Aberglauben zu reinigen, und sie nicht mehr auf den Teufel, der im Finstern spuket, sondern auf den moralischen Teufel, das heißt, auf das in ihnen wohnende Böse, und auf die äusserlichen Reitzungen zur Sünde, zurückführten?" Wie brisant diese auch heute noch modern anmutenden Vorstellungen waren, beweist ihre Einkleidung in Frageform. Die öffentlichen Gegenschriften, die Gerstenbergs Eden hervorrief, wurden durch den Pfarrer Keyser in Massenheim, einen Parteigänger Benners, angeführt. In den Streit um die Existenz des Teufels griffen aber später auch Schwarz und vor allem Köster ein. Unter den in Gießen entstandenen Schriften Bahrdts erregte das meiste Aufsehen seine aktualisierte Bibelübersetzung Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen (1773/1774), die u.a. Goeze, Goethe und Lessing auf den Plan rief. Seitens der Person Goethes sah sich Bahrdt einer Kritik ausgesetzt, die sich unter ästhetischen Prämissen neu zu formieren begann. Bahrdts entmystifizierende Bibelübersetzung44 wurde als unpoetische Bilderstürmerei empfunden und als geschmacklos abgelehnt. Goethes satirische Verdikte gegen Bahrdt waren, zumindest in Gießen, die Zugnummern in den konservativen Gesellschaftszirkeln. In der Literatur über Bahrdts Gießener Zeit spielen zwei von ihm gegen seine Kollegen Schulz und Ouvrier gerichtete Rezensionen, die im Januar 1773 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen erschienen waren, eine gewisse Rolle, insofern sie gemeinhin als Bruch eines von Bahrdt selbst vorgeschlagenen und vom Landgrafen sanktionierten Stillhalteabkommens gesehen wurden.45 Damit habe Bahrdt jeglichen guten Willen vermissen lassen und eine schier unverständliche Unklugheit an den Tag gelegt. Die von Diehl erstmals geäußerte psychologische Motivierung, "in Bahrdts schwarzer Seele" seien "furchtbare Rachegedanken" aufgestiegen46, wurde mehrfach aufgegriffen und verselbständigte sich zu einem festen Bestandteil allgemeinener Charakterisierung Bahrdts. Bechtolsheimer, der ebenfalls meint, Bahrdt sei "von einer gewissen Rachsucht" nicht freizusprechen, neigt sogar dazu, "ihn als Psychopathen zu bewerten."47 Für die Hintergründe, die zu einer der beiden genannten Rezensionen, nämlich die Ouvrier betreffende, führten, liefert die bereits mehrfach erwähnte Lebensbeschreibung Ouvriers einige neue Aufschlüsse, die das negative Bild, das von Bahrdt gezeichnet wurde, korrigieren helfen: Es stand neben mir als zweiter Burgprediger der zugleich zum Professor extraord. Theologiae ernannte Schwarz. Dieser hatte eine Dissertation gehalten, worin er lehrte, daß nicht die Wunder allein von sich, sondern in Verbindung der Lehre einen wahren Beweiß für die Göttlichkeit unserer Religion abgäben. Diese ganz richtige Bemerkung aber war dem Profess. L.O. Schulz neu, und sah sie als so gefährlich und falsch an, daß er in den damaligen wöchentlichen Gießener Anzeiger oder Wochenblatt etwas Nachteiliges gegen den D. Schwarz einrücken ließ. Dieser vertheidigte sich und bald darauf kam wieder ein heftiger Anfall auf diese Vertheidigung, doch anonymisch. Der Prof. Philosophiae Böhm und dazu Inspector Academiae, welches Amt er bei Antritt der Regierung bekam, aber auch bald wieder verlor, machte eine Anzeige, mit der Bemerkung, wie dergleichen Leistungen der Universität großen Nachteil brächten. Diese Anzeige aber kam, ich weiß nicht, ob aus Versehen oder aus Vorsatz, in die Hände Serenissimi nach Pirmasens, und es wurde eine Untersuchung des Auctoris der letzten insolventen Anzeige im Wochenblatt befohlen. Der damals noch als Vice Canzler angestellte Prof. Koch, der D. Bechtold und ich wurden Commmissarii. Ich erhielte aber blos die Berichte zum Zeichnen von den beyden Commissarii und wurde zu keiner Beratung zugezogen. Beyde waren dabey zu gute Freunde des D. Schulze u. Bahrdt, daß man deutlich sahe, wie sie über die Sache hinausgingen, und dem Bahrdt, welcher schriftlich von der Commission war aufgefordert worden, dann auch schriftlich sich von allem Antheil in dieser Anzeige losgesagt hatte, durchhelfen wolten. Indem der commissarische Bericht abgehen solte, brachte mir der ältere Buchführer Krieger, das eigen Manuscript, welches Bahrdt mit seiner Hand in die Druckerey gegeben hatte. Nun konte ich den Bericht nicht mehr unterschreiben, sondern schickte diese eigenhändige Schrift des D. Bahrdts nach Darmstadt.48 Das Ergebnis war, so berichtet Ouvrier weiter, daß Koch und Bechtold scharfe Verweise erhielten und ihm fortan zu schaden suchten. Die erste Gelegenheit dazu sei dann auch durch die von Bahrdt verfaßte Rezension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen genutzt worden. Ouvriers Bemerkungen lenken die Aufmerksamkeit auf einen im Zusammenhang mit der beschriebenen Debatte im Giesser Wochenblatt abgedruckten Aufsatz mit dem Titel "Aberglaube und Unglaube"49, als dessen Verfasser mit großer Wahrscheinlichkeit Bahrdt anzusehen ist. Dieser Aufsatz ist als Erwiderung auf einen kurz vorher in derselben Zeitschrift erschienenen polemischen und gegen den Atheismus gerichteten Angriff zu betrachten, dessen Einrückung vor dem Hintergrund der bis dahin in dem Blatt geführten Kontroverse zwischen Schwarz auf der einen und Bahrdt und Schulz auf der anderen Seite als Herabwürdigung der Bahrdtschen Partei aufgefaßt werden mußte. Eine Gegenreaktion war u.a. deshalb nötig geworden, weil "Atheisterey" und "Freygeisterey" in einen Topf geworfen worden waren.50 Der anonyme Verfasser der Replik, der wie gesagt, mit großer Wahrscheinlichkeit Bahrdt ist, bedient sich eines geschickten rhetorischen Schachzuges, indem er nämlich den Aberglauben gegen den Unglauben ausspielt: "Es ist eine Schwachheit, alles zu glauben; und es ist eine Thorheit, nichts zu glauben" (S. 305). Die entsetzlichen Wirkungen, die der Aberglaube hervorgebracht hat, werden anhand zahlreicher Beispiele offenkundiger Mißbräuche des Wunderglaubens aus dem christlichen und nichtchristlichen Bereich erläutert. Implizit wendet sich der Verfasser in der antithaumaturgischen Tendenz seines Aufsatzes gegen lutherisch-orthodoxe Positionen, wie sie vor allem von Schwarz und Köster vertreten wurden. Die im Giesser Wochenblatt ausgetragene Kontroverse macht deutlich, daß das erwähnte Stillhalteangebot Bahrdts, das von ihm selbst angeblich durch die beiden Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen gebrochen wurde, zu keiner Zeit tatsächlich bestand bzw. eingehalten wurde. War die von Diehl vorgenommene psychologische Interpolation der Akten hinsichtlich der furchtbare Rachegedanken ausbrütenden schwarzen Seele Bahrdts schon reichlich überzogen, so läßt sich die von Diehl vermittelte Vorstellung eines durch "Angst und Schrecken" geduckten Bahrdt noch weniger bestätigen.51
Neue Einsichten seien kein Verbrechen, und auch die Theologie dürfe man nicht vom Fortschreiten des Denkens ausnehmen: "Oder will man nie anfangen zu bedenken, daß unsere Väter weder Orakel in Absicht auf Einsichten, noch Päbste waren, in Absicht auf das Recht uns vorzuschreiben was wir vor wahr halten sollen? Ja will man nie einsehen daß unsere Zeiten durch das neue Licht der Sprachwissenschaften, welches die Bibelauslegung erleuchtet, vor jenem unsrer Väter einen unendlichen Vorzug haben?" Den Vorwurf, die Ruhe der Kirche werde durch solche Schriften gestört, könne er nicht auf sich beziehen, den Lärm machten die "so genannten Wächter Zions welche ungeheißen und ohne Noth in die Kezerposaune stoßen und allen Leuten zurufen: Siehe da ! Nun fangen die Leute an neugierig zu werden. Nun lesen sie erst. Nun saugen sie Gift aus der Arzeney." Weiterhin sei der erhobene Vorwurf, die Akademie komme in einen üblen Ruf, aus der Luft gegriffen: Ich weiß wohl, daß einige in allen Gesellschaften wo sie hinkommen ausgesprengt haben, es wäre im Zweybrückischen und in Frankfurth ein Verbot da, die Söhne nicht nach Giesen zu schicken. Allein unser Herr RegierungsRath Sues kann diese Herrn auf eine Art beschämen die ihnen unerwartet seyn wird, wenn sie Ihn fragen wollen. Und in Ansehung Frankfurths berufe ich mich auf unsern Herrn ViceKanzler, welcher sich ausdrücklich in Frankfurth darnach erkundigt hat - doch die Sache ist an sich lächerlich. Außerdem seien seine Gesinnungen bei seiner Berufung ja bekannt gewesen, und es sei dem Hof und der Akademie klar gewesen, was sie erwarten würde. Den Kernpunkt des Plädoyers bildet die Verteidigung Bahrdts gegen die Unterstellung, er habe seinen Professoreneid gebrochen. Hinsichtlich der symbolischen Bücher als Bestandteil der Glaubenslehre, auf die der Eid abgelegt wurde, beruft sich Bahrdt auf Walch, der sie nicht zu den wesentlichen Religionswahrheiten rechne, auf die ihn der Eid verpflichte. Diese "neu modische Erklärung der Eidesformel" habe Bahrdt schon vor seinem Antritt in Gießen öffentlich vertreten, und niemand habe versucht, ihn davon abzubringen: Wer hätte sich wohl unterstehen wollen mir damal zu melden: Freund! Ihr wollet euch nach Giesen begeben. Aber ich muß euch vorher sagen, daß wir hier eine ganz andere Erklärung der Eidesformel haben, als sie die übrige Geistliche Welt hat. Bey uns heißt auf die symb. Bücher schwören, so viel als: sich anheischig machen daß man jedes Wort und jede Sylbe, folglich alle Definitionen, polemische Subtilitäten, Spracherklärungen, Argumentationen u.d. sie mögen andern ehrlichen Leuten so falsch vorkommen als sie wollen, getreu und ohne alle Ausnahme nachbeten und den Studenten und Zuhörern vorsagen wolle. Durch eine solche Einschränkung benehme man sich aber Argumentationsmöglichkeiten, die zur Widerlegung grober Irrtümer dringend erforderlich wären, bzw. man widerlege den Gegner nur schlecht, wodurch er eher gestärkt als geschwächt aus dem Streit hervorgehe. Dieses Phänomen lasse sich beispielsweise bei Benner feststellen, der "den Sabellianismus (ich sage dieses ohnbeschadet der übrigen Hochachtung die ich für seine Verdienste hege) in seinen Erwägungen schlecht wiederlegt und folglich unmittelbar befördert hat." Bahrdt bezieht sich hier auf den 1772 erschienenen ersten Band von Benners Schrift Pflichtmäßige Erwägungen die Religion betreffend, auf die unten noch einzugehen ist. Im weiteren Verlauf seines Plädoyers geht Bahrdt auf den Umstand ein, daß Benner in seinen Erwägungen implizit gegen Bahrdt geschrieben habe, da Benner den Professoreneid mit habe abdrucken lassen: "Doch es ist mehr als zu offenbar, daß der angedruckte Eid die unrühmliche Absicht hatte, mich tacite für Eidbrüchig zu erklären, und mir durch dieses Argument eine - gnädige Dimission zu präpariren." Eine solche Entscheidung obliege aber dem Landesherrn, und nicht einem Kollegen. Erst jetzt kommt Bahrdt zu der eigentlichen Beantwortung der Frage nach seinem Anteil an den Vorschlägen zur Berichtigung und Aufklärung des Lehrbegriffs Unserer Kirche und lüftet das Geheimnis, daß die ersten drei Betrachtungen von ihm selbst seien, was man bereits am Stil erkennen könne. Dazu stehe er und lasse es sich auch gefallen, daß bei der Göttinger Fakultät ein Gutachten darüber erbeten werde, welcher Schritt offensichtlich erwogen wurde. Das Schriftstück zeigt m.E. keineswegs einen von unkontrollierbaren Emotionen geschüttelten Verfasser, sondern eher einen energischen und mit Überlegung vorgehenden Verfechter aufgeklärter und fortschrittlicher Ideen, der trotz aller Widrigkeiten und Intrigen seiner Gegner eine durchgängige und plausible Linie verfolgt. Nicht Angst und Schrecken, sondern Mut und Entschlossenheit in der Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung erscheinen als die charakteristischen Eigenschaften, die der Verfasser des Dokumentes an den Tag legt.
Der zu Beginn des Jahres 1773 erschienene zweite Teil der Pflichtmäßigen Erwägungen ist dagegen als eine ausführliche Replik auf eine Rezension von Benners Abhandlung einer theologischen Moral zum Behuf akademischer Vorlesungen. Gießen 1770. Der Verfasser der in der von Nicolai herausgegebenen Allgemeinen deutschen Bibliothek abgedruckten Rezension (15/2, S. 488 f.) ist der mit Bahrdt befreundete Abt Resewitz. Benner hält aber offensichtlich Bahrdt für den Verfasser, vermutlich weil Bahrdt sich in seinen Vorlesungen in Gießen bereits abschätzig über Benners Moral geäußert hat. Im zweiten Teil der Pflichtmäßigen Erwägungen nimmt Benner u. a. Stellung zu der Frage der Toleranz, die einen wesentlichen Streitpunkt zwischen der lutherischen Orthodoxie und der Aufklärungstheologie ausmachte. Hier (S. 55-80) ist für den Gießener Bereich zum ersten Mal ein Topos formuliert, der später von Schwarz und Köster wieder aufgegriffen werden wird. Benner spricht Bahrdt praktisch das Recht ab, Mitglied der evangelischen Kirche bleiben zu können und nimmt damit bereits Tendenzen vorweg, wie sie später im preußischen Religionsedikt von 1788 verfolgt und politisch umgesetzt werden sollten: Wer in eine so verehrenswürdige Gesellschaft eintrit, wie die Kirche ist, der verbindet sich zu heiligster Beobachtung aller wesentlichen Verfassungen derselben, ohne welche sie das nicht bleiben kann, was sie ist. Er nimmt zugleich auf sich, seiner Gemeinschaft mit dieser Kirche verlustig zu werden, sobald er vorsetzlich und halsstarrig jene freywillig übernommene Obliegenheit brechen würde. Fängt ein solches Mitglied an, diese Grundverfassungen heimlich zu mißbilligen, öffentlich anzufechten, feindselige Religionsparthien zu begünstigen, seine Vorgänger und Mitarbeiter im Lehramte zu verunglimpfen, die Zurechtweisende rachgierig zu bedrohen: was thut er alsdenn anders, als er schliesset sich selbst aus, und höret auf, kraft seines eigenen Verhaltens, ein Mitglied derjenigen Kirche zu seyn, deren erklärter Feind er vorsetzlich geworden ist. (S. 57 f.) Auch ein weiterer Topos, der für das Selbstverständnis der Gießener Geistlichkeit in ihrem Verhalten gegenüber Bahrdt kennzeichnend werden sollte, ist hier bereits vorgeformt, die Formel nämlich, daß Bahrdt sich sein Scheitern in Gießen aufgrund seiner mangelnden Integrationsfähigkeit selbst zuzuschreiben habe. Der von Benner geprägte Satz: "Toleriren heisset niemals das tolerirte Böse lieben, das man hassen muß, weil es böse ist." (S. 58) ist Maxime und integrativer Bestandteil des Selbstverständnisses der Gießener lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit und prägt ihr Verhalten gegen Bahrdt. Es fällt auf, daß es von der Hypostasierung der konkreten Existenz des Bösen, wie sie die 'rechtgläubige' Dämonologie vertritt, zu der Besetzung des Bösen mit einer real existierenden Person nur ein kleiner Schritt ist. Diesem Mechanismus fällt Bahrdt in Gießen zum Opfer.56 Benner geht sogar so weit, daß er behauptet, die Religionsverachtung des Ketzers gehöre vor den politischen Richtstuhl (S. 59), wenn der Religionsverächter sich anmaßt, noch Bestandteil der instituierten Religionsgemeinschaft zu sein, denn die Religion habe sich unter den Schutz des Staates gestellt, der über ihre Rechte zu wachen habe. In dem Ruf nach dem Staat als Beschützer der in ihren Grundfesten bedrohten Kirchenverfassung kristallisiert sich hier bereits 1773 im Kern der politische Konservativismus heraus, der von Valjavec und Epstein analysiert worden ist.57
Im weiteren Verlauf der Deduktion, die hier nicht in ihrer gesamten Kleinschrittigkeit vorgestellt werden kann, berührt Köster ungewollt den unauflöslichen Widerspruch zwischen Rechtgläubigkeit und Meinungsfreiheit und gibt so mittelbar eine Begründung für den logischen Zusammenhang von lutherischer Orthodoxie und politischem Konservativismus: Ich kann mir eine jede Lehre des Christenthums vorstellen, wie mir es beliebt. Dieses ist wahr, in Absicht auf andre Menschen, welche kein Recht haben, mir in meinen Vorstellungen vorzuschreiben. Ich kann überhaupt denken was ich will, und Niemand hat sich darum zu bekümmern was ich glaube, so lange meine Gedanken in meiner Seele verschlossen bleiben. Allein so bald ich rede und lehre, so kann dieses andern Menschen nicht immer gleichgültig seyn. Aus der Freyheit zu denken folgt die Freyheit zu reden und zu lehren nicht unmittelbar, ob man gleich um dieses letztere zu behaupten, jenen Satz so oft einprägt" (S. 25). Eine solche Auffassung bedeutet, daß es dem einzelnen nicht frei steht, sich "eine selbstbeliebige Vorstellung von irgendeiner christlichen Lehre zu machen", sondern "wenn ich von der Göttlichkeit der heiligen Schrift versichert bin, so muß ich mir eine Vorstellung machen, die der Schrift gemäß ist" (ebd.). Auf dieser Basis entwickelt Köster seine Dämonologie (S. 30 ff.) und spielt abschließend den Teufel gegen die Aufklärungstheologie aus: Der Teufel selbst möchte es auch wohl nicht für gut befinden, sich Ihnen näher zu erkennen zu geben. Sollte er sich auch gleich nicht vor Ihnen fürchten - Denn wer kann dieses wissen? so möchte es doch seinem Interesse schwerlich gemäß seyn, Ihnen zu andern Einsichten zu verhelfen. Warum sollte er es nicht mit Dank annehmen, daß man sich so viele Mühe giebt, den Leuten die Furcht vor ihm zu benehmen, und sie sicher zu machen? (S. 54).
1.6.3.
Johann Georg Gottlob Schwarz’ Merkwürdige Geschichte _____________________________________________ 2 Eine solcherart emphatisch behauptete Einschätzung rechtfertigt sich durch die inzwischen knapp 140 oft mehrbändigen Publikationen, wie sie von der neueren Bahrdt-Forschung inzwischen nachgewiesenen bibliographisch erfaßt worden sind. - Vgl.: Otto Jacob und Ingrid Majewski: Karl Friedrich Bahrdt. Radikaler deutscher Aufklärer (25.8.1740 - 23.4.1792). Bibliographie. Halle an der Saale 1992. 3 Ich habe die notorische Unbotmäßigkeit, die sich geradezu als charakteristisches Beschreibungsmerkmal für Bahrdts publizistische Arbeiten herausstreichen läßt, in einem Aufsatz über Bahrdts Aufenthalt in Gießen mit der von Peter Friedrich Nehmiz entlehnten Formel des 'Enthusiasmus für Aufklärung' zu beschreiben versucht. Der Begriff ist einer Passage aus der von Nehmiz 1790 veröffentlichten Verteidigungsschrift für Bahrdt entnommen, in der die Autobiographie Bahrdts als entlastendes Beweismaterial angeführt wird: "Man gehe nur seinen von ihm selbst angegebenen Lebenslauf durch und man wird finden, daß er in seinem Leben bereits die wunderbarsten Schicksale erdulden müssen; und will man jedesmal die Gründe ausspüren, so würde sich mit Zuverläßigkeit finden, daß sein unbezwinglicher Leichtsinn ihm die mehresten Fatalitäten zugezogen habe." [Peter Friedrich Nehmiz:] D. Carl Friedrich Bahrdts rechtliche Vertheidigung. Das einzige zu Beleuchtung seiner neusten Schicksale authentisch bekannte Aktenstück. Regensburg 1790, S. 50. Im nämlichen Sinne appelliert Nehmiz an die Richter zu beherzigen, daß "keine Bosheit des Herzens und übler Vorsatz, sondern auf der einen Seite Enthusiasmus für die Beförderung der Aufklärung, für welche er in seinem langen Leben so unsäglichen Fleis angewendet und so viel gelitten hat, auf der andern Seite sein unbezwinglicher Leichtsinn ihn dahin geführet, keine widrige Folgen zu befürchten" (S. 78). Die Ausführungen machen deutlich, daß das sich emanzipierende Bürgertum der Autobiographie als Artikulationsform seines Selbstbewußtseins und Selbstverständnisses einen so hohen Stellenwert zumaß, daß sie häufiger und eindringlicher auf den weiteren Lebenslauf des Autobiographen zurückwirken konnten, als dies im 19. oder 20. Jahrhundert der Fall war.- Vgl.: Rolf Haaser, Vom unbezwinglichen Leichtsinn des Enthusiasmus für Aufklärung. Karl Friedrich Bahrdt in Gießen, in: Gerhard Sauder und Christoph Weiß (Hrsg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740 - 1792). St. Ingbert 1992. S. 179-226, hier S. 213. 4 Für die Kenntnis des knapp vierjährigen Aufenthalts von Bahrdt in Gießen (1771-1775) ist grundlegend: Wilhelm Diehl: Beiträge zur Geschichte von Karl Friedrich Bahrdts Gießer Zeit. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde. N.F. 8 (1912), S. 199-254. Die äußerst materialreiche Studie präsentiert wichtige Teile des Gießener und Darmstädter Aktenmaterials, weist aber durch eine vordergründig psychologisierende Interpretation der Dokumente z.T. erhebliche Mängel auf. Zwei weitere Arbeiten sind im Rahmen der hier behandelten Themenstellung an vorderer Stelle zu nennen: Gustav Frank: Dr. Karl Friedrich Bahrdt. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung. In: Friedrich von Raumer (Hrsg.): Historisches Taschenbuch. 4. F., 7. Jg. (Leipzig 1866), S. 203-369. Frank ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil er einen Überblick über die literarische Tätigkeit Bahrdts in Gießen und die daraus resultierenden Streitschriften liefert. Die wichtigste neuere Arbeit über die Geschichte von Bahrdts Gießener Zeit ist: Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966. Die als Lebenswerk Bräuning-Oktavios zu betrachtende Arbeit enthält S. 35 ff. und S. 248 ff. eine eigenständige Bahrdt-Studie, die im Vergleich zu Diehl von einer wesentlich breiteren Quellenbasis ausgeht und auch in der Interpretation des Materials zu überzeugenderen Schlußfolgerungen gelangt. Die weitere Spezialliteratur beschränkt sich entweder auf einzelne Aspekte von Bahrdts Aufenthalt in Gießen, oder sie ist nicht eigenständig genug, um wesentlich neue Erkenntnisse vermitteln zu können; der folgende chronologische Überblick mag daher zur Kenntnis des Forschungsstandes genügen: Karl Buchner: Karl Friedrich Bahrdt und der Buchhandel. In: Ders.: Beiträge zur Geschichte des deutschen Buchhandels. 1. Heft. Gießen 1874, S. 62-72. Josef Collin: Professor Karl Friedrich Bahrdt in Gießen. Vortrag von Herrn Realgymnasiallehrer und Privatdocenten Dr. Collin vom 24. Mai 1894. In: Mitteilungen des oberhessischen Geschichtsvereins. N.F. 5 (1894), S. 167-170. Heinrich Bechtolsheimer: Karl Friedrich Bahrdt. Ein Lebens- und Kulturbild aus dem 18. Jahrhundert. In: Hessisches Kirchenblatt. (1903), Nr. 7-12, 20, 21 und (1904), Nr. 6, 8. Heinrich Bechtolsheimer: Dr. Karl Friedrich Bahrdt und sein Aufenthalt in Gießen. In: Festnummer der Darmstädter Zeitung zur dritten Jahrhundertfeier der Universität in Gießen. 1. Aug. 1907, S. 6 f. Heinrich Bechtolsheimer: Dr. Karl Friedrich Bahrdt (Nachtrag). In: Wochenbeilage der Darmstädter Zeitung zur dritten Jahrhundertfeier der Universität Gießen. 2. Aug. 1907, S. 122 f. Paul Drews: Das Eindringen der Aufklärung in der Universität Gießen. In: Preußische Jahrbücher 130 (1907), S. 35-59. Paul Drews: Der wissenschaftliche Betrieb der praktischen Theologie in der theologischen Fakultät zu Gießen. In: Universität Gießen (Hrsg): Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Beiträge zu ihrer Geschichte. Festschrift zur dritten Jahrhundertfeier. Bd. 2, Gießen 1907, S. 245-292. Heinrich Bechtolsheimer: Karl Friedrich Bahrdt in seiner Gießener Zeit (1771 bis 1775). Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Georg Bertram (Hrsg.): Stromata. Festgabe des akademisch-theologischen Vereins zu Gießen im Schmalkaldener Kartell. Leipzig 1930, S. 84-95. Heinrich Bechtolsheimer: Ein giessener Professor (Karl Friedrich Bahrdt) und seine Widersacher. In: Heimat und Bild. Beilage zum Gießener Anzeiger (1931), Nr. 6, S. 21-24. Heinrich Bechtolsheimer: Zur Geschichte der Aufklärung in Deutschland. In: Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte 10 (1935), S. 191-216. Rudolf Ziel: Carl Friedrich Bahrdt. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 60 (1941), S. 412-455. Heinrich Steitz: Gießen, Universität. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 1571-1574. Georg Ploch: Prof. Dr. Bahrdt über Gießen und die "Gießer". In: Hessische Heimat (Gießen). Nr. 8 (10.4.1963), S.31 f. Sten Gunnar Flygt: The Notorious Dr. Bahrdt. Nashville 1963, S. 55-134. Heinrich Steitz: Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. 4 Bde. Marburg 1965. Zweiter Teil: Orthodoxie. Pietismus. Rationalismus. Kap. 6: Der Verfall der theologischen Lehre. S. 270-275. Herman Bräuning-Oktavio: Karl Friedrich Bahrdt. Professor in Gießen (1741-1792). In: Ders.: Wetterleuchten der literarischen Revolution. Johann Heinrich Merck und seine Mitarbeiter an den Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 in Wort und Bild. Darmstadt 1972, S. 80-83. Rüdiger Mack: Johann Christoph Friedrich Schulz und das Eindringen der Aufklärung in die Universität Gießen. In: Peter Moraw und Volker Press (Hrsg.): Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte. Marburg 1982, S. 379-408. Trotz einer derart umfangreichen Forschungsliteratur ist ein erneutes Aufgreifen der Thematik dadurch legitimiert, daß eine wesentlich erweiterte Quellenlage - vor allem durch eine erst vor wenigen Jahren aus Familienbesitz veröffentlichte Autobiographie Ludwig Benjamin Ouvriers - eine Revision erfordert, wobei aufgrund einer eingehenden Analyse des gedruckten und ungedruckten Materials zentrale Topoi der bisherigen Bahrdt-Forschung in Zweifel gezogen werden müssen. Für die vorliegende Arbeit wurde folgendes archivalisches Material mit unmittelbarem Bezug auf Bahrdts Gießener Aufenthalt ausgewertet: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 21/10: Acta die Bestallung 1) des Prof. u. Superint. Bechtold zum 2. Prof. Theologiae und Superintendenten der Marburger Dioeces; 2) des Hofprediger Ouvrier zum 3. Prof. Theologiae und Superintendenten der Alßfelder Dioeces; und 3) des Prof. Barth zum 4. Prof. Theolog. und ihre Besoldungen betr. 1771-1774. E 6 B, 22/3: Die Dimission des Professors Bahrdt. 1775. E 6 B, 23/2: Acta Die Vocirung des Dr. Barth zu Erfurt zur 4. Theologischen Professur in Gießen und was wegen den in Articulo Mysterii ihm vorgeworfenen irrigen Principiis passirt; item das demselben conferirte Assessorat beim frstln. Consistorio das. 1770-1773. E 6 B, 23/4: Die Zänkereyen der Gießer Theologen Dr. Barth, Benner, Ouvrier, Bechtold, Schulz und Schwartz; item Pfarrer Teuthorn zu Biedenkopf. 1772. E 6 B, 23/5: Acta die von dem Obrist und Bau-Director Müller zu Gießen entgegen den dasigen Professorem Theologiae Dr. Barth angebrachte InjurienKlage betr. 1772. E 6 B, 23/6: Acta in Sachen des Fürstl. Heßen-Darmstättischen Fiscalis contra den Professorem Theologiae Dr. Barth zu Gießen. E 6 B, 23/9: Acta die Untersuchung des Professor Barths falscher Lehren und verbreiteten GrundIrrthümer in GlaubensSachen, und die demselben ertheilte Dimission betr. 1775. 1776. Universitätsarchiv Gießen: Theol K 5: Personalakte Bahrdt. - Unter den im Druck erschienenen Schriften mit Quellencharakter sind bezogen auf Bahrdts Aufenthalt in Gießen zu nennen (chronologisch): [Johann Georg Gottlob Schwarz ?:] Merkwürdige Geschichte dreyer Betrüger, aus dem sechzehenden und achtzehenten Jahrhunderte. Frankfurt/M. und Leipzig 1778. - Vor allem: Beylage. Sr. Hochwürden des Herrn Professor und Inspektor Schwarzens zu Alsfeld Pflichtmäsiger Bericht und Erklärung auf die Klagschrift Doctor Bahrdts. S. 57-96. [Heinrich Martin Gottfried Köster:] Bahrdtische Sache. In: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1779. 11. Stck. (Nov.), S. 821-876 und 12. Stck. (Dez.), S. 877-921. Karl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Bd. 2. Berlin 1790, S. 142-275. Georg Gottfried Volland: Beyträge und Erläuterungen zu Herrn Doctor Carl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung die er selbst verfertiget. Jena 1791, S. 4 f., S. 70-89, S. 115-117. [Friedrich Christian Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen zu Herrn D. Karl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung; in Briefen eines Pfälzers. o. O. 1791, S. 4, 6, 8-67, 144, 229. Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben und zur Warnung für Eltern und studierende Jünglinge herausgegeben. 2 Teile. Halle 1792. D. Carl Friedrich Bahrdt: In: Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1792, Gotha 1793, S. 119-255. Nachtrag zu Karl Friedrich Bahrdts Leben. In: Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf die Jahre 1790-93. Supplementband. Gotha 1798, S. 22-124. [Degenhard Pott (Hrsg.):] Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769. bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Nebst andern Urkunden. 4 Th. Leipzig 1798. Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Aus meiner Lebensgeschichte, die Bahrdtischen Bewegungen in den Jahren 1771 bis 1775 enthaltend. In: Tholuck (Hrsg.): Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt. (1833) Nr. 41-44, Sp. 321-344 u. 351 f. [Eugen Ouvrier (Hrsg.):] Lebensbeschreibung des D. Ludwig Benjamin Ouvrier. Hofprediger in Darmstadt. Universitätsprofessor in Gießen. Maschinenschriftliche Vervielfältigung, o. O. o. J. [Exemplar: UB Gießen]. 5 Degenhard Pott: Pragmatische Geschichte und endlicher Aufschluß der Deutschen Union oder der Zwei-und-Zwanziger, aus ihren Urkunden entwickelt nebst dem vorzüglichsten Briefwechsel derselben. (= Teil 5 der von Pott herausgegebenen Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769. bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Nebst andern Urkunden. Leipzig 1798). 6 Schlichtegroll: Nachtrag zu Bahrdts Leben. S. 31 f: "B. hatte seine Antrittspredigt in Giessen darauf eingerichtet, die gegen ihn eingenommene Bürgerschaft umzustimmen, und ob sie gleich nicht die wundersamen Wirkungen herbrachte, die B. (2, 147 ff.) rühmt, so gefiel sie doch, weil B. darin ein völlig orthodoxes Glaubensbekenntnis ablegte und sie mit vieler Beredsamkeit hielt. Die Bürger sagten: das ist ein grosser Redner und kein so schlimmer Ketzer als man geglaubt hat! Ueberhaupt fanden seine Predigten in Giessen Beyfall, 1) weil er meistens Hauptsätze wählte, die nicht gemein und abgedroschen waren; 2) weil er die Predigten nicht memorirte, sondern nur eine ausführliche Disposition entwarf, worüber er frey aus dem Kopfe sprach, so dass sein Vortrag dadurch populärer und lebhafter wurde. 3) Weil er gut deklamirte. Er hatte zwar etwas von dem breiten Leipziger Accent, aber dennoch war seine Aussprache weniger fehlerhaft. Die Gebete trug er im Tone der innigsten Empfindung vor. 4) Weil er die Zeitumstände und Geschichte des Tages auf sehr gute Art zu benutzen und eizuflechten wusste. 5) Weil er mitunter den Theologen Stiche gab, die man dann immer auf seinen Todfeind, den D. Benner, zog. So fing er z. B. eine Passionspredigt an: 'Meine Freunde, ich zeige euch heute unsern Heiland in den Händen seiner grimmigsten Feinde. Und wer waren diese Feinde? Ich schäme mich, dass ich es sagen muss, es waren Geistliche, und noch dazu solche, die in dem Rufe einer besonderen Rechtgläubigkeit standen; es waren die Pharisäer.' 6) Weil er zuweilen sehr orthodox predigte, allezeit aber die Heterodoxie künstlich versteckte. So hielt er z. B. eine Predigt über die Ewigkeit der Höllenstrafen, worin er diese mit allen möglichen Gründen erwies. Nur am Ende sagte er, er müsse gestehen, dass in Stunden, wo er über die unendliche Liebe Gottes nachdenke, und das Gefühl derselben bey ihm recht lebhaft werde, er sich die Hoffnung einer dereinstigen Begnadigung nicht ganz verwehren könne. Diese Predigt ist mit in einer seiner Predigtsammlungen abgedruckt." Höpfner wird von Schlichtegroll als einer seiner Informanten genannt. Der Bericht über Bahrdts Predigtstil dürfte daher von ihm verfaßt sein. Während seines Gießener Aufenthaltes hat Bahrdt u.a. versucht, das Predigtwesen zu reformieren, wie seine Homiletik und die Bemühungen um die Errichtung eines Predigerseminars belegen. 7 Volland: Beiträge und Erläuterungen, S. 21: "Diese nähere Bekanntschaft hatte auch bei ihr einen Eindruck gemacht, welcher durch eine Predigt, die er in Mühlhausen gehalten, und dabei er seine so vorzügliche Gaben zeigte, nicht wenig verstärkt wurde." 8 Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Aus meiner Lebensgeschichte. S. 335: "Er hielt seine Antrittspredigt, und ein großer Theil der Zuhörer war gewonnen. Seine Kanzelberedsamkeit überglänzte die anderen Prediger alle, so vorzüglich auch einige unter ihnen waren. Indessen gab es doch viele Leute in der Gemeinde, die sich davon nicht blenden ließen. Der Segen am Schluß des Gottesdienstes, den er nicht wie dort gewöhnlich war, sprechend, sondern nach sächsischer Weise singend vortrug, entließ die zahlreiche Versammlung mit einem befremdenden Eindruck, und mein Vater erlaubte sich den Witz, in der Sacristei zu dem alten Benner gewendet: 'er hat den Segen gesungen, er wird das Amen weinen.' Es war prophetisch." Der Verfasser der Erinnerungen ist der in Gießen geborene Kirchenrat und Professor der Theologie in Heidelberg Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766-1837). Der als Literat und vor allem als Reformpädagoge namhafte Schwiegersohn Jung-Stillings und Freund Friedrich Creuzers ist der Sohn des wohl heftigsten Gegners Bahrdts in Gießen, des außerordentlichen Professors der Theologie Johann Georg Gottlob Schwarz (1734-1788). Die im Litterarischen Anzeiger abgedruckten Kindheitserinnerungen von F. H. Chr. Schwarz bilden den auszugsweisen Vorabdruck einer geplanten, aber nicht erschienenen Autobiographie und basieren im wesentlichen auf einer Sichtung des väterlichen Nachlasses, auf eigenen Reminiszenzen sowie auf Mitteilungen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Von besonderem Wert sind die Erinnerungen, weil sie J. G. G. Schwarz als Autor einiger gegen Bahrdt gerichteter anonymer Schriften nachweist. Die umfassendste und kenntnisreichste Arbeit über F. H. Chr. Schwarz stellt der von Hans-Hermann Groothoff und Ulrich Hermann erstellte ausführliche Materialteil zu F. H. C. Schwarz: Lehrbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre. (Neudruck:) Paderborn 1968. dar. 9 Das Bewußtsein dieser Publizität ist, auch wenn Bahrdt seine Gleichgültigkeit gegenüber diesem Phänomen zu betonen sucht, Voraussetzung und konstitutives Element der Autobiographie Bahrdts: "Recensenten und Priester und Theologen und Maurer, und Gott weiß, was sonst noch für Menschenracen, haben mich bereits dermaßen an den Pranger der Publicität gestellt, daß mir die auf mich gerichteten Blicke der Menschen [...] gleichgültig geworden sind." Bahrdt: Geschichte seines Lebens. Bd. 1, S. 4. 10 [Pott:] Briefe an Bahrdt. Bd. 2, S. 281. 11 Vgl. Walter Gunzert: Enthusiasmus für menschliche Größe. Das Leben der Darmstädter Großen Landgräfin Caroline aus Briefen und zeitgenössischen Dokumenten übersetzt und aufgezeichnet. Darmstadt 1976, S. 60. 12 Vgl. Walter Gunzert: Darmstadt zur Goethezeit. Porträts, Kulturbilder, Dokumente zwischen 1770 und 1830. Darmstadt 1982, S. 56. 13 Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. S. 35. 14 Zitiert nach dem Teilabdruck des Briefes in Gunzert: Enthusiasmus. S. 54. 15 Vgl. [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung Ouvriers. S. 25 ff. Herr Dr. Eugen Ouvrier in Lauf/Pegnitz hat mir freundlicherweise Fotokopien der Handschrift zur Verfügung gestellt, so daß für die entnommenen Zitate die Lesefehler des Typoskripts hinsichtlich einiger Eigennamen bereinigt werden konnten. 18 Vgl. Gunzert. Darmstadt zur Goethezeit. S. 56. 19 [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung Ouvriers. S. 26: "Wie ich mit meinem Unterricht am Hofe fertig war, [...] ereignete es sich, daß in Gießen der 2. Superintendent und Professor Theol. D. Müller gestorben war, und die Frau Landgräfin brachte mich bei ihrem Gemahl zu dieser Stelle in Vorschlag, welches dann auch von demselben genehmigt wurde." 20 Vgl. Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. S. 37 f. Die dort zusammengestellten Beobachtungen lassen sich bequem in den hier umrissenen Interpretationsrahmen einfügen. 21 Mosers Verhältnis zu Bahrdt wird in der einschlägigen Literatur als die Haltung eines über die Ketzereien Bahrdts erzürnten Pietisten beschrieben, ohne daß die einer solchen Sichtweise widersprechenden Briefe Mosers an Bahrdt berücksichtigt worden wären. Vgl. [Pott (Hrsg.):] Briefe an Bahrdt. Bd. 1, S. 191 f., 211 f., 236 f., 267 f., 271, 314 und Bd. 2, S. 12 f. 22 Vgl. die Briefe Ouvriers an Bahrdt bei [Pott (Hrsg.):] Briefe an Bahrdt. Bd. 3, S. 234-238; des weiteren [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung, S. 28. 23 Eine umfassende Darstellung der Differenzen zwischen lutherischer Orthodoxie und Aufklärungstheologie unternimmt: Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929. Nachdruck: Hildesheim 1969. Heranzuziehen wäre auch die von demselben Autor verfaßte Biographie F. G. Lüdkes, des mit Bahrdt befreundeten Berliner Rezensenten der Allgemeinen deutschen Bibliothek: Karl Aner: Friedrich Germanus Lüdke. Streiflichter auf die Theologie und kirchliche Praxis der deutschen Aufklärung: In: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte (1914), S.160-232. 24 Vgl.: Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984. - Rüdiger Mack: Johann Jacob Rambach in Gießen (1731-1735). In: Ulrich Biester und Martin Ziem (Hrsg.): Johann Jakob Rambach. Leben, Briefe, Schriften. Gießen 1993, S. 47-70. 25 Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1973, S. 14. 26 Schlichtegroll: Nachtrag zu Bahrdts Leben. S. 32 f. Ein Aufenthalt Zechs in Gießen ist für die Zeit zwischen dem 5. und 12. November 1774 nachweisbar; er logierte laut Gießer Wochenblatt vom Jahr 1774 (S. 368) "nebst dero Suite" im Posthaus. 27 Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. S. 3. 28 Vgl. die Eingaben Georg Friedrich Werners in: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 27/1: Untersuchung gegen den Prof. Werner wegen seiner Aetiologie 1792-1794. 29 [Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen, S. 40 f. 30 Johann Friedrich Christian Schwarz: Lebensgeschichte. Sp. 336 ff. 31 Vgl. [Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen, S.46: "Gießen ist überhaupt ein Ort, wo die Fraubaserei und Klatscherei ordentlich zu Hause ist, und wo der, welcher nicht will in der Leute Mäuler kommen, sich sehr regelmäßig betragen muß, und wo Herr Bahrdt schlechterdings mußte beklatscht werden." 32Johann Friedrich Christian Schwarz: Lebensgeschichte. Sp. 336: "Auch erinnere ich mich noch an ein kleines satyrisches Gedicht mit einem Wortspiel aus einer Stelle in Hagedorns Nikol. Klimm, das niedlich gedruckt in Giessen circulierte." 33 Einige Studenten behaupteten, sie seien Bahrdt im Bordell begegnet und dieser habe sie regaliert, damit sie ihren Mund hielten; durchreisende Studenten wurden in den Wirtschaften freigehalten, wenn sie Leipziger oder Erfurter Histörchen über Bahrdt zum besten geben konnten; auch der von der Messe in Leipzig zurückkehrende Sohn des Buchhändlers Krieger konnte bei seiner Leipziger Hauswirtin einige Anekdötchen aus Bahrdts Vorleben in Erfahrung bringen, die die Gießener Öffentlichkeit lebhaft interessierten. Vgl. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen. S. 45 ff. 34 Vgl. Frank: Bahrdt. S. 226. 35 Giesser Wochenblatt (1772), S. 121. 38 Giesser Wochenblatt (1773), S. 115. 39 Vgl. Johann Friedrich Christian Schwarz: Lebensgeschichte. Sp. 337: "Obgleich Barth viel Beifall hatte, so nahm doch der meines Vaters nicht ab. Wäre dieser ihm nur in der Exegese überlegen gewesen! Indessen war er doch nicht mit den Commentarien unbekannt, er besaß mehrere der Socinianer, und hiermit eine scharfe Waffe gegen Bahrdt. Denn er pflegte seinen Zuhörern, denen er Kirchengeschichte las, bevor sie fortgingen in die Exegese zu Bahrdt, voraus zu sagen, welche Erklärung dieser vorbringen werde, und las sie ihnen auch wohl aus Crellius oder sonst einem Socinianer vor. Kamen sie nun in das Collegium zu Bahrdt, so trat dieser grade mit derselben Erklärung auf, die er für die seinige ausgab, ja manchmal, wie mir gesagt worden, mit denselben Worten, welche sie eben hatten vorlesen hören. Mein Vater ging in seinem akademischen Humor noch weiter. So wie ein Bogen von Bahrdts 'Neuesten Offenbarungen' erschien, hing er ihn mitten in seinem Auditorium auf. Dergleichen war freilich nicht geeignet, den Frieden zu erhalten, und noch weniger den Streit recht zu führen." 40 Eine nicht geringe Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch der aus Göttingen nach Gießen gekommene Professor Christoph Friedrich Schulz. - Vgl. Mack: Schulz und das Eindringen der Aufklärung. - Das in der Forschungsliteratur häufig zitierte Zerwürfnis der ehemaligen Freunde Bahrdt und Schulz über die Errichtung des Predigerseminars in Gießen scheint mir in der geschilderten Tragweite aufgebauscht, da die Bedeutung dieses Seminars weit geringer anzusetzen ist, als gemeinhin angenommen. Laut einer Notiz des Giesser Wochenblatts vom 15. Dez. 1772 (S. 396) bestand die Einrichtung um die Jahreswende von 1772 auf 1773 gerade einmal aus acht Teilnehmern, sie dürfte also kaum über den Charakter einer homiletischen Übung hinausgegangen sein. Plausibler scheint daher die von Bahrdt in der Geschichte seines Lebens gegebene Erklärung, daß er Schulz (vermutlich fälschlicher Weise) für den Hinterbringer von vertraulichen Informationen aus dem Kreis um Bahrdt an Benner hielt, der der Schwiegervater von Schulz war. Daß Bahrdt an die Bespitzelung seines Privatlebens durch ein Mitglied seines Gießener Freundeskreises glaubte, bestätigt Volland in seinen Beyträgen und Erläuterungen (S. 116). 41 Am ausführlichsten werden die in die Gießener Zeit fallenden Veröffentlichungen Bahrdts bei Frank: Bahrdt. S. 226-235. behandelt. Die Bibliographie, die Bahrdt der Geschichte seines Lebens angehängt hat, ist nicht ganz vollständig. Den neueren Forschungsstand berücksichtigt die von Otto Jacob und Ingrid Majewski erstellte Bahrdt-Bibliographie mit dem Titel Karl Friedrich Bahrdt. Radikaler deutscher Aufklärer (25.8.1740 - 23.4. 1792). Bibliographie. Halle an der Saale 1992. Als Veröffentlichungen Bahrdts während seiner Gießener Zeit haben somit zu gelten: Bahrdt, Karl Friedrich: Vorschläge zur Aufklärung und Berichtigung des Lehrbegriffs unserer Kirche. Riga 1771. [Bahrdt, Karl Friedrich:] Urteil eines protestantischen Schriftstellers über das Buch des Justinius Febronius. Nach der französischen Leipziger Ausgabe von dem Jahr 1771 zum Zeitvertreibe des Frauenzimmers ins Deutsche übersetzt an den Ufern des Rheinstromes. [o. O.] 1771. Bahrdt, Karl Friedrich. Vorrede zu [Gerstenberg, Jakob Heinrich:] Versuch das Herz eines Religionsverächters durch Vorstellung seines eigenen Vorteils zu gewinnen. Nebst einer Vorrede hrsg. v. D. Karl Friedrich Bahrdt. Leipzig 1771. [Bahrdt, Karl Friedrich ?]: Freie Betrachtungen über die Religion für denkende Leser. Halle 1771. Bahrdt, Karl Friedrich: Quae vera notio vocabulis [...] in N. T. libris subjecta sit? Gießen 1771. Bahrdt, Karl Friedrich: De precibus, quas in nomine Jesu facere jubentur novae societatis statores ad Joh. XIV, 13. Gießen 1771 Bahrdt, Karl Friedrich: Vorrede zu [Gerstenberg, Jakob Heinrich:] Versuch, den katholischen Lehrbegriff zu verteidigen, von einem Protestanten. Frankfurt am Main 1772. Bahrdt, Karl Friedrich: Die ganze Lebensgeschichte unseres Herrn Jesu Christi nach der Zeitordnung und einer ungezwungenen Harmonie aller vier Evangelien entworfen. Leipzig 1772. Bahrdt, Karl Friedrich: Vorrede zu [Gerstenberg, Jakob Heinrich:] Eden, das ist Betrachtungen über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten. Frankfurt am Main 1772. [Bahrdt, Karl Friedrich:] Sendschreiben an den Herrn Kayser, treuen Hirten der Herde zu Massenheim, von dem Verfasser des Edens. 1772. Bahrdt, Karl Friedrich: Predigten. Frankfurt am Main 1772. Fuhrmann [Karl Friedrich Bahrdt]: Leben, Thaten und Charakter des Herrn Carl Renatus Hausen. Deutschland [Halle] 1772. Bahrdt, Karl Friedrich: Homiletik. Frankfurt am Main, Leipzig 1773. Bahrdt, Karl Friedrich: Predigten zur Paraphrase des Neuen Testaments. 2 Bde. Riga 1773. Bahrdt, Karl Friedrich: Kritiken über die Michaelische Bibelübersetzung und die exegetischen Grundsätze, welche er darinnen befolgt hat. Frankfurt am Main 1773. Bahrdt, Karl Friedrich: Schediasma academicum, quo de theologia Ante-Nicaena quaedam in medium proferuntur, excitandae civium pietati in celebrandis sollemnibus paschalibus destinatum. Gießen 1773. Bahrdt, Karl Friedrich: Predigten zur Bestreitung schädlicher Vorurteile in der Religion. Leipzig 1773. Bahrdt, Karl Friedrich: Entwurf einer unparteiischen Kirchengeschichte des Neuen Testaments. Ein academisches Lehrbuch. Frankfurt am Main 1773. Bahrdt, Karl Friedrich: Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen. Verdeutscht von D. Karl Friedrich Bahrdt. 4 Bde. Riga 1773-1774. Bahrdt, Karl Friedrich (Hrsg.): Frankfurter gelehrte Anzeigen. Frankfurt am Main 1773/74. [Bahrdt, Karl Friedrich (Hrsg.) ?:] Lehrbegriff der christlichen Kirche in den drei ersten Jahrhunderten. Zur Prüfung einiger neueren Versuche und Streitigkeiten in der Dogmatik und deren Geschichte. Aus den sichersten Resten des christlichen Altertums in seinem Zusammenhang vorgetragen von Christian Friedich Roesler. Frankfurt am Main 1775. Bahrdt, Karl Friedrich (Hrsg.): Allgemeine theologische Bibliothek. Mietau 1774-1777. Bahrdt, Karl Friedrich: De genuina interpretationes loci Matth. V, 17, contra Zeibichianus commentationes. Gießen 1774. Bahrdt, Karl Friedrich: Apparatus criticus. Ad formandum interpretem Veteris Testamenti. Bd. 1. Leipzig 1775. Bahrdt, Karl Friedrich: Die Lehre von der Person und dem Amte unseres Erlösers, in Predigten rein biblisch vorgetragen. Frankfurt am Main 1775. Bahrdt, Karl Friedrich: Lehrbuch der Religion. Deutsch und französisch. Frankfurt am Main 1775.. 42 Vgl. Volland: Beyträge und Erläuterungen. S. 4 f. 43 Auf dem Inneneinband des Exemplars der Universitätsbibliothek Halle findet sich folgender Eintrag in der Handschrift Bahrdts: "Der Verfasser [dieser Schrift ist] H. [Jak. Hein=]rich von Gerstenberg, der sein Leben in einer philosophischen Stille zubrachte, und sich unaufhörlich mit theologischen Materien beschäftigte. Er ist der Verfasser vieler anonymischen Schriften z. B. auch der Hypomnematae zur Bahrdtischen Dogmatik, der allgemeinen Gedanken von der Trennung der Christen etc. Er starb zu Erfurt den 3ten April 1776 früh im 64sten Jahr seines Alters. Vielleicht erhalten wir von jemand, der die Freunde mit gewissen Nachrichten unterstützen will, zu seiner Zeit eine ausführliche Beschreibung von allem, was diesen merkwürdigen Gelehrten betrifft." 44 An dieser Stelle ist auf eine amerikanische Dissertation hinzuweisen: John Thomas Brewer: "Gesunde Vernunft" and the New Testament: A Study of C. F. Bahrdt's Die Neusten Offenbarungen Gottes. Diss. Austin/Texas 1962, 169 S. Brewer verfolgt die Absicht, ein umfassenderes Verständnis des Werks, seiner Entstehung und seiner Bedeutung für die deutsche Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts zu vermitteln. Methodisch analysiert er das Werk auf vier Zugriffsebenen: 1. historisch/biografisch 2. philologische Analyse vier ausgesuchter Textstellen im Vergleich mit dem griechischen Original und der Übersetzung Luthers 3. generelle Charakteristik der Übersetzung Bahrdts 4. Untersuchung der zeitgenössischen Wirkung in Deutschland. 45 Vgl. Diehl: Bahrdts Giesser Zeit. S. 218-220. Bechtolsheimer (1930): Bahrdt in seiner Gießener Zeit. S. 69 f. 46 Diehl: Bahrdts Giesser Zeit. S. 220. 47 Bechtolsheimer (1930): Bahrdt in seiner Gießener Zeit. S. 95. Dasselbe Verdikt äußert der Autor auch 1931 in seinem Aufsatz: Ein Gießener Professor und seine Widersacher. In: Heimat im Bild. 12. Februar 1931, S. 24: "Bahrdt war ein hochbegabter Mann, doch war er willensschwach, vielleicht, wie ich es schon angedeutet habe, seelisch krank." 48 [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung Ouvriers. S. 28 f. Zitat nach einer Fotokopie der Handschrift mit leichten Korrekturen versehen. 49 Giesser Wochenblatt (1772), S. 303-308. 50 Atheisten. In: Giesser Wochenblatt (1772), S. 273-275. Die Gleichsetzung von Atheisten mit Freigeistern findet sich auf S. 273. Der Text ist ein Machwerk übelster Polemik: "Atheisten sind gefährliche Leute in der bürgerlichen Gesellschaft. Man sollte alle diejenige, welche sich dafür ausgeben, auszurotten suchen, wie man Schlangen und andere giftige Tiere zu vertilgen trachtet" (S. 275). Bräuning-Oktavio hat in Herausgeber und Mitarbeiter den Gießener Superintendenten Justus Balthasar Müller als Verfasser identifiziert und nachgewiesen, daß es sich dabei um eine neuerliche Einrückung eines bereits Jahre vorher schon einmal in dem Blatt erschienenen Textes handelt (S. 201). Da der Text sich problemlos in die aktuelle Debatte im Giesser Wochenblatt einreihen ließ, ohne daß man erhebliche nachteilige Folgen behördlicherseits hätte befürchten müssen, war er zu dem Zeitpunkt ein willkommenes Mittel, die Kontroverse ohne großes Risiko fortzusetzen, und man kann wohl vermuten, daß Schwarz für die erneute Einrückung verantwortlich war. Über den von Bräuning-Oktavio als Verfasser des Aufsatzes identifizierten Superintendenten Müller ist in einem anderen Zusammenhang bekannt, daß er in einer literarischen Gesellschaft, in dem die Gießener Professoren den Ton angaben, durch eine Deklamation von Goethes Jahrmarktsfest zu Plundersweiler, worin Bahrdt als Lichtputzer und stellvertretender Hanswurst erscheint, zum Ergötzen seiner Zuhörer beigetragen habe. - Vgl. Briefe des Grafen Friedrich zu Solms-Laubach an seine Mutter. Gräflich Solms-Laubachisches Archiv in Laubach, Oberhessen. Kleines Archiv XVII., 53. - Vgl. auch Helmut Prößler: Friedrich Ludwig Christian Graf zu Solms-Laubach 1769 bis 1822. Darmstadt 1957, S. 11. 51 Vgl. Diehl: Bahrdt. S. 219: "Die Angst und der Schrekken, die Bahrdt in den Monaten Juni bis August 1772 durchgemacht hatte, veranlaßten ihn, etwas vorsichtiger zu sein." Ähnlich S. 221: "In seiner Angst wandte er sich an seinen Freund, den Kanzler Koch." 52 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 23/4: Die Zänkereyen der Gießer Theologen Dr. Barth, Benner, Ouvrier, Bechtold, Schulz und Schwartz; item Pfarrer Teuthorn zu Biedenkopf. 1772. 53 Die zahlreichen und in ihrer bei weitem überwiegenden Mehrzahl gegen Bahrdt gerichteten Streitschriften sind meist von Mitgliedern der hessen-darmstädtischen Geistlichkeit verfaßt und scheinen das Ergebnis einer gezielten Kampagne zu sein. Obwohl auch Verfasser wie Goeze und Goethe sich zu Wort meldeten, ist die Diskussion doch eher als regional begrenzt einzustufen. Folgende Schriften konnten ermittelt werden (chronologisch): [Benner, Johann Hermann:] D. Karl Friedrich Bahrdts abgenötigte Verantwortung gegen ein unüberlegtes und widerrechtliches Responsum der Wittenbergischen Theologie. Erfurt 1770. [Benner, Johann Hermann:] D. Karl Friedrich Bahrdts aktenmäßige Gegenrelation in einem Sendschreiben an Herrn Professor Schmidt (zu Erfurt). Erfurt 1771. Benner, Johann Hermann: Pflichtmäßige Erwägungen, die Religion betreffend: namentlich ein neues Glaubensbekenntnis von der Gottheit überhaupt und der Dreieinigkeit besonders. 2 Bde. Frankfurt und Leipzig 1772/1773. Keyser, Johann Andreas: Das gerettete Eden von denen Erklärungen des D. Carl Friedrich Bahrden Freunde. Frankfurt am Main 1772. Teuthorn, Ernst Heinrich: Abgenöthigter Beweis, daß die Lehrer der Evangelischen Kirchen und Schulen besonders in Hessen, keine Mitbrüder des Herrn D. Bahrdts in Giesen, weder sind noch jemalen seyn können. Frankfurt und Leipzig 1772. Schwarz, Johann Georg Gottlob: Abhandlungen für die Reinigkeit der Religion, 1tes Stück, eine Anzeige einiger der gegen die Heilsordnung und Religion der Christen überhaupt streitenden Irrthümer Hrn. Dr. C. F. Bahrdts. Frankfurt und Leipzig 1772. Luck, Johann Philipp Wilhelm: Gedanken über die von Herrn Bahrdt Professorn und Predigern zu Gießen herausgegebene Vorschläge zur Aufklärung u. Berichtigung des Lehrbegrifs unserer Kirche. [Marburg] 1773. Goeze, Johan Melchior: Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des Neuen Testaments keine Übersetzung, sondern eine vorsetzliche Verfälschung und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey, aus dem Augenscheine geführet. Hamburg 1773. [Keyser, Johann Andreas:] Sendschreiben eines Ungenannten an seinen niedergeschlagenen Freund über die Stürme der Freygeister, womit sie unsere allerheiligste Religion zweifelhaft machen wollen. Verlegt, von einem Freund der Wahrheit. Frankfurt und Leipzig 1773. [anonym:] Beziehungen auf die Bahrdtischen Vorschläge zur Berichtigung des Lehrbegriffs unserer Kirche. Leipzig 1773. [anonym:] Untersuchungen über die Lehrsätze des Christenthums, auf Veranlassung der neuen theologischen Streitigkeiten. Berlin 1773. [Goethe, Johann Wolfgang von:] Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes verdeutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt. Gießen 1774. [anonym:] Toleranz=Brief an die Oberhessische Geistlichkeit. Frankfurt und Riga 1774. [anonym:] Zweiter Toleranz=Brief eine Unterredung mit dem ersten nebst einem Avertissement die Pränumeration, auf die zwote Auflage, betreffend. Frankfurt und Riga 1774. [Schwarz, Johann Georg Gottlob:] Vertraute Toleranzbriefe. [Hersfeld] 1774. [Schwarz Johann Georg Gottlob:] Eines geschworenen Feldschützen Anfrage wegen des Meineids an den hochw. Herrn Bahrdt, Dr. der Heiligen Schrift und geistlichen Professor des christlichen Glaubens in Gießen. Frankfurt am Main 1774. [anonym:] Die Frage: Ob Christus wahrer Gott sey? Aus den neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, verdeutschet von Hrn. D. Carl Friedrich Bahrdt beantwortet. Halle 1775. [anonym:] Sendschreiben eines Predigers im Elsaß an seinen in Gießen studierenden Sohn über des D. Bahrdts Neuste Offenbahrungen. Straßburg 1775. Johann Georg Gottlob Schwarz: Vom Eydschwur, ein Kanzelvortrag. Frankfurt am Main 1775. Keyser, J[ohann] A[ndreas]: Beweis, daß Dr. Bahrdt die Sprüche des Neuen Testaments, so von der Gottheit Christi handeln, in seiner neuen Uebersetzung falsch übersetzt habe. Frankfurt am Main 1775. [anonym:] Beweis, daß die neue Lehrart in der Theologie, die Bahrdt zu Gießen vorgeschlagen hat, gar wohl anzunehmen sei. o.O. 1775. [Johann Hermann Benner:] An die nicht biblischen Reformatoren über die Lehre von der Menschwerdung Christi rein biblisch beurtheilt. o.O. 1775. Keyser, Johann Andreas: Neue Zugabe zu seinem geretteten Eden und kurze Abfertigung des Sendschreibens an den treuen Hirten zu Massenheim, nach der Revision abgedruckt. Frankfurt am Main 1775. [Heinrich Martin Gottfried Köster:] Demüthige Bitte um Belehrung an die großen Männer, welche keinen Teufel glauben. In Deutschland 1775. [Heinrich Martin Gottfried Köster:] Unterthänige Vorschläge den Krieg der Protestanten mit den Verbessern ihres Lehrbegriffs zu endigen, und eine heterodoxe Universität anzulegen. Gedruckt in Deutschland 1776. [Heinrich Martin Gottfried Köster:] Belehrung des Verfassers der demüthigen Bitte an die großen Männer welche keinen Teufel glauben. Mit Anmerkungen des Verfassers. o.O. 1776. [Bonnet, Joh. Karl:] Demüthigste Antwort eines geringen Landgeistlichen Auf die demüthige Bitte u.s.f. Mit Anmerkungen. [Frankfurt am Main 1776.] [Teuthorn, Ernst Heinrich:] Briefe eines reisenden Juden über den gegenwärtigen Zustand des Religionswesens unter den Protestanten, herausgegeben von einem Layenbruder. Gießen 1776. Schwarz, Johann Georg Gottlob: Die christliche Religion ohne die Lehre von der Genugthuung Jesu, eine philosophische Sekte, oder gutgemeynte Betrügerey; eine Abhandlung. Gießen 1777. [Bonnet, Joh. Karl:] Des geringen Landgeistlichen Antwort auf die Belehrung des Verfassers der demüthigen Bitte an die grossen Männer welche keinen Teufel glauben in einem Brief an seinen Freund. o.O. 1777. [Teuthorn, Ernst Heinrich:] Briefe eines reisenden Juden über den gegenwärtigen Zustand des Religionswesens unter den Protestanten und Catholicken. Herausgegeben von einem Layen=Bruder. Dritte mit einigen Briefen vermehrte Auflage. [Gießen] 1778. [Johann Georg Gottlob Schwarz:?] Merkwürdige Geschichte dreyer Betrüger, aus dem sechzehenden und achtzehenten Jahrehunderte. Frankfurt und Leipzig 1778. [anonym:] Brief über den Zustand der Kirche und Litteratur unserer Zeit. Speier 1778. [Cellarius, Johann Friedrich:] Gedanken über Dr. Bahrdts Glaubensbekenntnis von einem evangelischen Christen. Darmstadt 1779. [Keyser, Johann Andreas:] D. Karl Friedrich Bahrdts Glaubensbekenntnis widerlegt von Orthonoete. 1780. 54 In der 1775 anonym erschienenen Schrift Benners mit dem Titel An die nicht biblischen Reformatoren über die Lehre von der Menschwerdung Christi rein biblisch beurtheilt ist von einer solchen vornehmen Zurückhaltung nicht mehr die Rede, da er sich dort (S. 5-10 u. S. 27) ausdrücklich gegen Bahrdt wendet. 55 Benner bezeichnet seine Pflichtmäßigen Erwägungen im 'Vorbericht' als sein Glaubensbekenntnis von Gott und der Dreieinigkeit und führt in diesem Zusammenhang aus: "Es soll aber die Absicht haben, den Lehrbegrif unserer Kirche aufzuklären, und zu berichtigen. Dann es ist ein Stück von denen, welche unter dieser Aufschrift, als eine Fortsetzung der Toleranzbriefe, an das Licht getreten sind." 56 Benner beschließt seinen Abschnitt über die Toleranz mit dem unverhüllt gegen Bahrdt gerichteten Vorwurf der Unredlichkeit, indem er denjenigen, der die "ungescheute Ausbreitung Socinianischer Irrthümer vor eine Reformation evangelischer Kirchen ausgiebt", einen Wolf im Schafspelz nennt (S. 80). 57 Vgl. Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen 1770 bis 1815. München 1951. Epstein: Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. 58 Heinrich Martin Gottfried Köster (1734-1802) war in Guntersblum geboren, hatte das Gymnasium in Idstein besucht, dann in Jena studiert und war Pfarrer in Wallertheim, bevor er als Prorektor und Prediger in Weilburg angestellt wurde, von wo aus er mit Bahrdt in Briefkontakt trat. Es scheint, als habe Bahrdt Köster als Rezensent für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen zu gewinnen gesucht, nachdem er vermutlich durch einige Artikel Kösters im Giesser Wochenblatt auf ihn aufmerksam geworden war. Daneben war Köster Bahrdts Verbindungsmann zu dem Rektor des Weilburger Gymnasiums, dem Philologen und Mathematiker Johann Philipp Ostertag, den er ebenfalls als Rezensenten gewinnen wollte. Bereits die bei Pott abgedruckten Briefe Kösters an Bahrdt lassen erkennen, daß Köster keine große Stütze bei der Verbreitung progressiver Ideen und Inhalte sein würde, da er allzusehr bestrebt war, seine guten Gießener Kontakte nicht aufs Spiel zu setzen. Außerdem versuchte er, Bahrdts Interesse und Verständnis für eine mysteriöse Geistererscheinung zu erregen, deren Glaubwürdigkeit von Köster allem Anschein nach nicht in Zweifel gezogen wurde. Hier sind bereits die Wurzeln für Kösters reaktionäre Wendung zu erkennen, die er vollzog, nachdem er 1773 ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Gießen geworden war. Bis 1775 hatte sich Kösters Teufelsglaube, auf den bereits Aner in Theologie der Lessingzeit und im Anschluß daran Epstein in Ursprünge des Konservativismus in Deutschland hingewiesen haben, so sehr manifestiert, daß er bereits Gegenstand einer selbständigen Veröffentlichung Kösters werden konnte. Daß diese anonym in Gießen erschienene Demüthige Bitte innerhalb von drei Monaten drei Auflagen erleben konnte, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stand der Aufklärung in Gießen in dem Jahr, in dem Bahrdt die Stadt in Richtung Schweiz verließ. Die von Köster 1777 bis 1796 redigierten Neueste Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen sind Ausdruck einer Präsenz der lutherischen Orthodoxie, die nach Bahrdts Abgang nicht nur eine ungebrochene Virilität an den Tag legte, sondern geradezu gestärkt aus den Kämpfen mit der Aufklärungstheologie hervorgegangen zu sein scheint. Kösters reaktionär-konservative Haltung fand ihre konsequente Fortsetzung in seiner späteren Mitarbeiterschaft an der Zeitschrift Eudämonia, deren geistiger Vater der Gießener Regierungspräsident und Schüler Benners Ludwig Adolf Christian von Grolman war und die als eines der zentralen Organe bei der Verbreitung der These von der Verschwörung der Illuminaten in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts Gießen als Obskurantennest in Verruf bringen sollte. Schließlich ist zu Köster noch zu bemerken, daß er als die wohl bedeutendste Gießener Informationsquelle für seinen Schwager Friedrich Christian Laukhard in Betracht kommt. 59 Der Band enthält eine Sammlung mehrerer relativ eigenständiger Polemiken gegen Bahrdt deren umfangreichste, die Merkwürdige Geschichte, dem gesamtem Band den Titel gegeben hat. Obwohl nicht alle diese Beiträge von demselben Verfasser zu stammen scheinen, spricht einiges dafür, daß Schwarz als bedeutendster Beiträger und vermutlich als Herausgeber anzusehen ist, was u. a. aus dem Abdruck eines bis dahin unveröffentlichten, untertänigen Berichts abzulesen ist, den Schwarz 1772 verfaßt und an das Ministerium in Darmstadt eingereicht hatte. 60 Vgl. J. Presser: Das Buch " De Tribus Impostoribus" (Von den drei Betrügern). Amsterdam 1926. 61 Die Dekanatsbucheintragung Benners wird am ausführlichsten besprochen bei Drews: Eindringen der Aufklärung. S. 49 f. 62 Zu dem gesamten Vorgang vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 10, E 10, 2/14: Acta Ministerialia betr. die Confiscation der Schrift "Dr. Carl Friedrich Bahrdt's Glauben-Bekenntnis" die Bestrafung des Herausgebers derselben, Buchhändlers Krieger und den nachherigen Erlaß dieser Strafe. 1779. - Der Titel des Akts ist irreführend, da Krieger nicht der Verleger, sondern lediglich der Vertreiber der Schrift in Gießen war. 63 Vgl. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen, S. 127 ff. 64 [Karl Friedrich Bahrdt:] Kirchen= und Ketzer=Almanach aufs Jahr 1781. Häresiopel, im Verlag der Ekklesia pressa. [1780] 65 Vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 10, 2/15: Hessen-Darmstädtische Akten betr. die Verteidigung des Professors der Geschichte zu Gießen, Heinrich Martin Gottfried Köster, gegen die wider ihn in dem Ketzer-Almanach enthaltenen Verunglimpfungen 1781. 66 Interessanterweise sind Hezel und Crome auch die späteren Lehrer Ludwig Börnes. Für die Herausbildung des politischen Bewußtseins Börnes wäre demnach, unter dem Aspekt der Vermittlung über diese beiden exponierten Vertreter der 'Deutschen Union', eine Langzeitwirkung der aufklärerischen Ideen Bahrdts in Betracht zu ziehen. 67 Vgl. August Friedrich Wilhelm Crome: Selbstbiographie. Ein Beitrag zu den gelehrten und politischen Memoiren des vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderts. Stuttgart 1833, S. 142. 68 J. Keller: Briefe aus dem Philantropinum in Dessau. In: Pädagogische Blätter. Bd. 24 (1895), S. 380. 69 [Karl von Knoblauch:] Ueber die Kunst in der Geschichte zu muthmassen. Aus dem Französischen des Herrn von Alembert. Mit einigen Zusäzen. In: Das graue Ungeheur. Hrsg. v. Wekhrlin. 9. Bd. (1786) S. 168-180, hier S. 179 f. 70 Zu Winz vgl. Werner Troßbach: Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied. Fulda 1991. Unter Anspielung auf ein Gutachten der Marburger theologischen Fakultät im Prozeß gegen Winz läßt Knoblauch eine von ihm erfundene Figur mit Namen Hero im Rahmen eines fiktiven Dialogs folgende Äußerung tun: "Empfehlen sie ihr [der theologischen Fakultät in Marburg] lieber zur Lektur das Schriftchen [Bahrdts]: Ueber Preßfreiheit und deren Gränzen: zur Beherzigung für Regenten, Zensoren und Schriftsteller; ein Produkt das, zum Heil der Menschheit, um zweitausend Jahre eher hätte kommen sollen, das das vollständigste und treflichste Produkt der Preßfreiheit und Aufklärung ist, und das Brevier aller Regenten, Fakultäten und Konsistorien werden sollte." [Karl von Knoblauch:] Hero an Florimund. Antwort. In: Hyperboreische Briefe. Bd. 3. (1788) S. 64 f. Ähnliche Anspielungen auf Bahrdt finden sich auch an anderen Stellen bei Knoblauch. Als zusätzliches Beispiel sei auf eine Stelle in der allegorischen Parabel "Bileam der zweite." hingewiesen, die sich über mehrere Fortsetzungen in Wekhrlins Grauem Ungeheur hinzieht (Bd. 9, S. 334-340, Bd. 10, S. 177-181 und S. 281-285, Bd. 12, S. 109-114). Darin beschreibt Knoblauch ironisch das Verhältnis zwischen der alten Dame Theologie und ihrer jüngeren Stiefschwester Philosophie, genauer den Emanzipationsprozeß, durch den letztere sich über erstere erhebt. Im letzten der vier Teile beklagt sich die Theologie bei der Philosophie:"Sieh nur an, was mir der gottlose Lessing in seinem Nathan, und ein leichtfertiger Schäker in seinen Briefen im Volkston für Schaden gethan haben! - Bahrdt hat aus dem zweiten Blatt meiner Urkunde [d. i. das Neue Testament], durch seine Manie, alles natürlich zu erklären, einen Roman gemacht. Schwester Philosophie lächelte, und sprach: Mich dünkt, meine Gnädige, du sündigest gegen den Sprachgebrauch, und nennest romanhaft, was natürlich, und dem Laufe der Natur gemäß ist; da doch sonst das Ausser= und Uebernatürliche; oder, welches eins ist, das Unnatürliche, und mit bekannten Naturgesezzen streitende, eine Erzählung zur romanhaften Erzählung macht" (Bd. 12, S. 110 f.). 71 [Pott:] Briefe an Bahrdt. Bd. 5, S. 158. 72 F. Mauvillon (Hrsg.): Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Deutschland 1801. S. 190-230. 73 Die Kopie des Briefes, die in der Untersuchung gegen Knoblauch verwendet wurde, befindet sich im Königlichen Hausarchiv in Den Haag: C 26 - Ik: Hinterlassene Papiere des Geheim Raths von Passavant-Passenburg. Aus dem Herzoglich-Braunschweigischen Archiv scheint später Grolman in den Besitz einer Abschrift des Briefes gelangt zu sein, so daß er ihn, versehen mit einem äußerst polemischen Kommentar, in der von ihm redigierten Zeitschrift Eudämonia. Bd. 2 (1796), S. 295-297 abdrukken konnte. 74 Die Debatte wurde vor allem in der Wiener Zeitschrift und in dem Braunschweigischen Journal geführt. 75 Vgl. den auszugsweisen Abdruck des Reskriptes bei Wilhelm Müller: Eine hessen=darmstädtische Verordnung von 1793 wider die Revolutionspoesie. In: Hessische Chronik. Bd. 3 (1914), S. 119. 76 Georg Friedrich Werner: Versuch einer allgemeinen Aetiologie. Gießen 1792. Zu dem gesamten Vorgang vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 27/1: Untersuchung gegen den Prof. Werner wegen seiner Aetiologie 1792-1794. 77 Vgl. Greineisens anonym von ihm herausgegebene Verteidigungsschrift: Eine Geschichte politischer Verketzerungssucht in Deutschland, im letzten Jahrzehend des 18ten Jahrhunderts. Ein Beytrag zur Geschichte des Aristokratism in den Hessen=Darmstädtischen Landen, und der dasigen Obskuranten. Nebst einigen Aufschlüssen über die ehemalige Verbindung des Regierungs=Direktors von Grolman zu Giesen, mit dem Illuminaten=Orden. Deutschland 1796. Wichtige Aufschlüsse über den Vorgang auch bei Crome: Selbstbiographie. S. 234 ff. 78 Es handelt sich dabei augenscheinlich um die fälschlicherweise Eberhard Karl Klamer Schmidt zugeschriebene Ausgabe: Zwey seltene Antisupernaturalistische Manuskripte eines Genannten und eines Ungenannten. Pendants zu den Wolfenbüttelschen Fragmenten. Berlin [Marburg/Lahn] 1792. Bei den beiden Schriften handelt es sich um die Titel De Tribus Mundi Impostoribus breve Compendium und die von Theodor Ludwig Lau im Jahr 1717 veröffentlichten Meditationes Philosphicae de Deo, Mundo, Homine. 79 Vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 29,2/28: Briefe des RegRats Dr. Crome an Geh.Rat und Staatsminister Frhr. v. Gatzert oder Hesse (?) 1793-1794. Die Briefe sind nachweislich an Gatzert gerichtet. 80 Vgl. Werner Röhr (Hrsg.): Appellation an das Publikum... Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99. Leipzig 1987, 2., korrigierte Auflage Leipzig 1991. Schmid setzte sich als einziger Jenaer Kollege Fichtes für dessen Verbleib an der Universität ein (vgl. ebd. S. 404-406). Von Gießen aus waren Schmids Nachfolger Schaumann und der Theologieprofessor Johann Ernst Christian Schmidt auf der einen und Grolman als Hauptredakteur der Eudämonia auf der anderen Seite am Streit um Fichte beteiligt. Im Jahr 1798 erfolgte sogar im Zusammenhang mit dem Atheismusstreit ein Verbot des russischen Zaren Paul I. an alle seine Untertanen, in Jena oder Gießen zu studieren (vgl. ebd. S. 499). 81 Schulz' Bemühungen, der Aufklärung in Gießen zum Durchbruch zu verhelfen, sind bei Drews: Das Eindringen der Aufklärung und bei Mack: Schulz und das Eindringen der Aufklärung ausführlich geschildert. |
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