Wissenschaftliche Publikationen Texte Spätaufklärung und Gegenaufklärung

Der Ausgangspunkt: die Dozententätigkeit Karl Friedrich Bahrdts in Gießen 1771 bis 1775

1.1. Bahrdts Gießener Lehrtätigkeit, Legendenbildung und Forschungslücke
1.2. Widerstände gegen Bahrdt vor und während seines Amtsantritts in Gießen
1.3. Bahrdts Rolle in der Heiratspolitik des Hofes in Darmstadt
1.4. Streitigkeiten innerhalb der Theologischen Fakultät als Ausdruck der Modernisierungskrise der Universität Gießen
1.5. Bahrdts Bericht vom 26. Oktober 1772 an den Rektor der Universität als Manifest seines aufklärerischen Selbstverständnisses
1.6. Publizistische Kampagne gegen Bahrdts Neuerertum
1.6.1. Johann Hermann Benners Pflichtmäßige Erwägungen
1.6.2. Heinrich Martin Gottfried Kösters Demüthige Bitte
1.6.3. Johann Georg Gottlob Schwarz' Merkwürdige Geschichte
1.7. Gießen als Zentrum der fortgesetzten Anti-Bahrdt-Polemik nach Bahrdts Weggang
1.8. Gießener Parteigänger Bahrdts als Mitglieder und Sympathisanten der Deutschen Union
1.8.1. August Friedrich Wilhelm Crome
1.8.2. Karl von Knoblauch

1.1. Bahrdts Gießener Lehrtätigkeit, Legendenbildung und Forschungslücke

Der Aufklärungstheologe und Verfasser von literarischen und politischen Texten Karl Friedrich Bahrdt (1740-1792)1 erscheint im Lichte neuerer Forschungen als einer der produktivsten und vielseitigsten Autoren der deutschen Spätaufklärung.2 Nicht zuletzt die politische, oft sogar dezidiert polemische Schärfe seiner Schreibweise hat eine Fülle seiner Zeitgenossen, kaum weniger als spätere Autoren, dazu herausgefordert, sich publizistisch mit den unbequemen und oft bewußt provokanten Thesen und Texten Bahrdts auseinanderzusetzen.3 Die enorme Wirkung der publizistischen Arbeiten Bahrdts liegt vor allem in dem Umstand begründet, daß an seiner Person die fundamentalen Widersprüche der Spätaufklärung augenfällig werden. Denn in der Reihe der Schriftsteller, die den krisenhaften Zustand der politischen Situation vor und während der Französischen Revolution deutlich werden ließen, steht Bahrdt an vorderster Stelle. Mit seinen Schriften und Projekten setzte Bahrdt das Selbstverständnis weiter Teile der deutschen bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit in Bewegung und brachte deren latentes Konfliktpotential beschleunigend zur Zuspitzung.

Es beruht daher durchaus auf einer inneren Stringenz, daß Bahrdt als Person, sein individueller Lebensstil und seine familiären Verhältnisse in einer Weise an die Öffentlichkeit gezerrt wurden, durch die die Praktiken der heutigen Boulevardpresse vorweggenommen scheinen. Die Verleumdungen, Beschimpfungen und verketzernden Herabwürdigungen, mit denen Bahrdt in einem unvergleichlichen und für die damalige Zeit bis dahin ungekannten Ausmaß bedacht wird, markieren eine historische Umbruchsituation, in der die aufklärerische Gelehrtenrepublik unter Schmerzen von einer ihrer zentralen Grundvoraussetzungen Abschied nimmt, nämlich von dem Modell des 'reinen' Diskurses zur Beförderung von Wahrheit auf dem Wege der sachlichen Auseinandersetzung. Gesellschaftspolitische Indizien für diese Umbruchsituation sind die Selbstvergewisserungskämpfe der Freimaurerei und Geheimgesellschaften sowie die Strukturierung der politischen Parteibildung über den traditionellen Nordsüd-Antagonismus und über die bis dahin dominierende Religionszugehörigkeit hinaus. Beides, die Neuorganisationsbestrebungen der Geheimgesellschaften und die Herausbildung einer neuen politischen Parteienlandschaft, sind Parameter für den krisenhaften Zustand der deutschen Spätaufklärung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, und in beiden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nimmt das publizistische Oeuvre Bahrdts einen nicht wegzudenkenden Stellenwert ein. Bereits vor dem Beginn der Französischen Revolution ist ein großer Teil der Mitglieder der Gelehrtenrepublik gezwungen, in der sich wandelnden gesellschaftspolitischen Landschaft Position zu beziehen, und viele tun dies in Auseinandersetzung mit den Texten und Projekten, die Bahrdt in Umlauf setzt. Dies gilt vor allem in bezug auf die notwendig gewordene Vergewisserung dessen, was überhaupt Aufklärung ausmache, und ist letztendlich mit dafür verantwortlich, daß die bislang sich als geschlossen begreifende Bewegung in verschiedene Richtungen spätaufklärerischer Modifikationsversuche des Aufklärungskonzepts aufzuspalten beginnt, bis hin zur Herausbildung einer dezidiert gegenaufklärerischen Position, die sich weitgehend aus ehemaligen, z. T. sogar äußerst prononcierten Verfechtern der Aufklärung rekrutierte. Die zunehmende Polemisierung und Personalisierung des Aufklärungsdiskurses läßt sich geradezu paradigmatisch anhand der publizistischen Auseinandersetzung um Bahrdt demonstrieren.

Sehr zum Nachteil der Forschung hat sich die voreingenommene und unsachliche Polemik gegen Bahrdt in zahlreichen historischen, biographischen, literatur-, kultur- und religionsgeschichtlichen Arbeiten niedergeschlagen und seine Rolle als Initiator von radikalaufklärerischen Projekten und Ideengeber der deutschen Spätaufklärung in einem schiefen Licht erscheinen lassen. Eine lange Zeit hindurch ist daher eine vorurteilsfreiere Einschätzung der literarischen, historischen und politischen Bedeutung Bahrdts beeinträchtigt gewesen, eine Entwicklung, die sich z. T. bis in unsere Zeit hinein fortgesetzt hat. Daß sich dennoch die Bahrdt-Forschung inzwischen von den überkommenen Vorurteilsstrukturen befreit hat und zu einer längst überfälligen Neubewertung der Rolle Bahrdts als einem der radikalsten und revolutionärsten deutschen Aufklärer durchgestiegen ist, ist vor allem dem Kulturhistoriker Günter Mühlpfordt in Halle zu verdanken, dessen zahlreiche Studien insbesondere zu der von Bahrdt ins Leben gerufenen radikalen Korrespondenzgesellschaft, der sogenannten Deutschen Union, Maßstäbe gesetzt haben.

Betrachtet man die Vita des ebenso berühmten wie berüchtigten aufklärerischen Schriftstellers Karl Friedrich Bahrdt, so erscheint der Abschnitt seiner Biographie, der durch seine Tätigkeit als Theologieprofessor an der hessen-darmstädtischen Landesuniversität in Gießen ausgefüllt wird, der Zeitraum zwischen 1771 und 1775 nämlich, als eine vergleichsweise viel zu kurze Frist, um mehr denn einen eher vorübergehender Abstecher von peripherer Bedeutung für seine geistige Entwicklung ausmachen zu können. Auch umgekehrt hat sich die Forschung bislang kaum der Mühe unterworfen, Anzeichen oder Belege zu sammeln, die geeignet wären, die Gießener Lehrtätigkeit Bahrdts oder seine während dieser Zeit entstandenen Schriften im Lichte ihrer Wirkung auf das literarische und kulturelle Leben der Stadt erscheinen zu lassen. Dies hängt nicht zuletzt mit der nahezu einhelligen Ablehnung der Person Bahrdts und der durch sie repräsentierten radikalen Reformideen seitens der Historiographen und Biographen zusammen, und gerade die Gießener Lokalhistorie hat ihre Schwierigkeiten mit dem sogenannten 'enfant terrible' der Aufklärung bis in die jüngste Zeit hinein kaum verhehlen können.4 Bestandteil der Legendenbildung um Bahrdts Gießener Episode ist ihre Reduktion auf einen vorübergehenden Lapsus der Universitätsgeschichte, der durch das energische Intervenieren der Behörden in einer Art von Selbstheilungsprozeß rechtzeitig korrigiert werden konnte, bevor Stadt oder Universität einen ernstzunehmenden Schaden davongetragen hätten. So war man bislang auch weit davon entfernt, einen Zusammenhang mit dem weitaus später, gegen Ende der achtziger Jahre von Bahrdt verfolgten Projekt einer radikaldemokratischen Aufklärungsgesellschaft der Deutschen Union in den Blick zu nehmen, und dies obwohl immerhin seit Degenhard Potts Edition des Bahrdtschen Briefwechsels5 eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft in der oberhessischen Provinzialhauptstadt und deren Umland nachgewiesen ist. Der vorliegende Beitrag versucht, gestützt auf unveröffentlichtes Material, die bislang verborgenen Fäden der Bahrdt-Rezeption in Gießen vom Beginn seines Aufenthaltes in der Stadt bis zu seinem Lebensende aufzugreifen und die unterschwellige Kontinuität der Wirkung Bahrdts und seiner Ideen in der mittelhessischen Region nachzuzeichnen. Dabei wird deutlich werden, daß die Ideenzirkulation der Spätaufklärung in der Auseinandersetzung mit Bahrdt auch und gerade in der geographischen, kulturellen und politischen Semiperipherie Gießens in einem Maße beschleunigt wurde, die für den größten Teil der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit eine Neuordnung des eigenen Ideengebäudes und damit eine Revision ihres politischen Selbstverständnisses nach sich zog. Die im Zuge dieser Beschleunigung ausgetragenen Grabenkämpfe zwischen den aufbrechenden Konfliktparteien führen in Gießen zu einem polemisch zugespitzten Streitdiskurs zwischen einer in sich selbst nicht sehr geschlossenen Fraktion der Vertreter der Spätaufklärung einerseits und einer Kerngruppe des gegenaufklärerischen Obskurantismus andererseits. Beide Gruppierungen zeichnen sich durch eine sich widerstreitende Bahrdt-Rezeption aus, die ihnen zur Definition der jeweils eigenen Positionen dient.

Die für den Kreis des gegenaufklärerischen Obskurantismus charakteristischen Konturen einer solchen Bahrdt-Rezeption, die vorderhand durch eine ablehnende Haltung, teilweise mit ausgeprägten Zügen einer geschlossenen Anti-Bahrdt-Front, gekennzeichnet ist, haben ihren Ursprung in der Zeit unmittelbar vor dem Erscheinen Bahrdts in Gießen, als die Universität begann, ihre Berufungsverhandlungen zur Besetzung der freigewordenen Theologieprofessur zu führen. Von hier an zieht sich eine ununterbrochene Linie der Anti-Bahrdtpolemik bis weit nach dessen Tod durch, die zunächst Bahrdt aus seinem Gießener Lehrstuhl verdrängte, damit nicht genug bei jeder sich später bietenden Gelegenheit mit einer nicht versiegenden Häme ihm zu schaden bestrebt war, seine Deutsche Union als ein verschwörerisches Projekt der Illuminaten denunzierte, Bahrdt selbst als einen den Altären und Thronen gleichermaßen gefährlichen Schädling brandmarkte und seine Festungshaft, ja selbst noch sein Abscheiden aus dem zeitlichen Leben, mit niederträchtiger Genugtuung zur Kenntnis nahm.

Die wichtigsten Protagonisten dieser zeitlebens anhaltenden Diffamierungskampagne sind der lutherisch-orthodoxe Ordinarius der Gießener theologischen Fakultät und Superintendent Johann Hermann Benner, der Pädagogiarch und Professor der Geschichte Heinrich Martin Gottfried Köster und vor allem der Gießener Regierungs- und Konsistorialdirektor Ludwig Adolf Christian von Grolman, die in einer kaum noch überschaubaren Fülle von Veröffentlichungen es nicht satt werden konnten, gegen Bahrdt und seine Parteigänger zu Felde zu ziehen. Durch die Entdeckung und Neugewichtung archivalischer Quellen können nun eine ganze Reihe anonymer Rezensionen, Aufsätze und Veröffentlichungen als Bestandteile der aus diesem Personenkreis heraus inszenierten Hetzkampagne gegen Bahrdt benannt und zugeordnet werden, wobei insbesondere das von L. A. C. von Grolman in die Welt gesetzte Diffamierungsnetzwerk eine erhebliche, teilweise sogar europaweite Breitenstreuung erzielte und eine nachhaltige Wirkung für das bis in unsere Zeit hinein wirksam gebliebene Bahrdt-Bild zeitigen sollte.

Weit entfernt von einer solchen Wirkmächtigkeit sind die Freunde und Parteigänger Bahrdts in Gießen, meist Mitglieder der Deutschen Union, als deren hervorragendste Repräsentanten die Professoren August Friedrich Wilhelm Crome und Johann Wilhelm Friedrich Hezel anzusehen sind, in gewissem Sinne auch der Dillenburger Justizrat Karl von Knoblauch, der enge Bindungen zu diesem Gießener Aufklärerkreis unterhielt. Allesamt sahen sich diese Anhänger der Aufklärungsideen Bahrdts in Gießen den Gesinnungsschnüffeleien und den schikanösen Diffamierungen durch ihre Gegner ausgesetzt und wurden mehr als einmal in politischen Untersuchungsprozessen zur Rechenschaft gezogen, die aufgrund der aus dem Lager der Aufklärungsgegner heraus angezettelten Denunziationen gegen sie angestrengt worden waren.



1.2. Widerstände gegen Bahrdt vor und während seines Amtsantritts in Gießen

Als Mitte Mai des Jahres 1771 Karl Friedrich Bahrdt in seiner neuen Funktion als Professor an der theologischen Fakultät und Vesperprediger an der Pankratiuskirche in Gießen seinen Antrittsgottesdienst hielt, war das Gotteshaus brechend voll und das Gebäude nicht groß genug, den Andrang derjenigen aufzunehmen, die aus Gießen und den umliegenden Ortschaften zusammengeströmt waren, um den Mann zu sehen, über dessen Berufung von Erfurt nach Gießen sich seit einiger Zeit die Gemüter erhitzten. Selbst die Anwesenheit Wielands in Gießen eine Woche vorher - er hatte bei seinem Schwager, dem Professor Baumer, logiert und war von den Studenten standesgemäß mit Fackelzug und Ständchen geehrt worden, - hatte den Gesprächsstoff über die umstrittene Berufung Bahrdts eher vermehrt als verdrängt. Schließlich war Wieland, ebenfalls aus Erfurt kommend, auf dem Weg in die Residenz nach Darmstadt, und man munkelte, daß er als Professor für Gießen gewonnen werden sollte. Vielleicht wußte auch jemand, selbstverständlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, zu berichten, daß die heimliche Korrespondenz zwischen dem Professor Bechtold und Bahrdt über den Bruder des Professors Baumer in Erfurt abgewickelt worden war. Ganz sicher konnte man sich aber jedenfalls sein, daß Wieland inzwischen in Darmstadt ein gutes Wort für Bahrdt eingelegt haben dürfte.

Wie dem auch sei, der sonntägliche Kirchgang versprach diesmal, neben der gewohnten religiösen Erbauung, ein besonderes Schauspiel. Wie würde der als Ketzer verschriene neue Prediger sich aus der Affäre ziehen, wie würde sich der alte Superintendent Benner verhalten, würde er seinen Zorn darüber im Zaume halten können, daß er sich seit mehr als einem halben Jahr erfolglos gegen die Berufung Bahrdts gesträubt und alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt hatte, die drohende Katastrophe abzuwenden? Und zwischen beiden der Theologieprofessor Bechtold, der Drahtzieher hinter der Affäre, der, nur um selbst die Karriereleiter hinaufzusteigen, die Berufung Bahrdts betrieben hatte. Oder der junge und ehrgeizige Prediger Schwarz, der sich vergebliche Hoffnungen auf die nun von Bahrdt besetzte Stelle gemacht hatte. Würde man den Beteiligten die Spannungen anmerken, die zwischen ihnen bestanden?

Nach Bahrdts eigener Schilderung war die Gemeinde durch die im Vorfeld betriebene Meinungsmache vollkommen gegen ihn eingenommen, doch sei es ihm gelungen, durch eine mit viel religiösem Pathos vorgetragene Predigt die Stimmung zu seinen Gunsten zu wenden. Bahrdts außergewöhnliches Talent als Prediger wird ihm selbst von seinen Gegnern zugestanden. Ein Augenzeuge der Gießener Antrittspredigt, wahrscheinlich der Jurist Ludwig Julius Friedrich Höpfner, bestätigt dies ausdrücklich und gibt eine ausführliche Beschreibung von Bahrdts Predigtstil.6 Auch sein etwas breiter sächsischer Akzent soll der Wirkung keinen Abbruch getan haben. Selbst Bahrdts Frau soll, wenn man ihrem Bruder glauben darf, ihre Liebe zu Bahrdt während einer seiner Predigten entdeckt haben.7 Bechtold, der Bahrdt über die in Oberhessen üblichen Besonderheiten und Gepflogenheiten im Ablauf des Gottesdienstes instruiert hatte, hatte es versäumt - Bahrdt selbst meint in böswilliger Absicht -, ihm mitzuteilen, daß der Segen in Gießen gesprochen, und nicht, wie im Sächsischen der Brauch war, gesungen wurde, so daß eine für Bahrdt etwas peinliche Situation entstand. Anlaß genug jedenfalls, um den bereits erwähnten Johann Georg Gottlob Schwarz anschließend in der Sakristei zu der Äußerung gegenüber Benner zu bewegen: "Er hat den Segen gesungen, er wird das Amen weinen."8

Die eher dürftige Ausstattung mit Quellen zur Geschichte des 18.Jahrhunderts, mit der die mittelhessische Regionalhistorie und insbesondere die Gießener Lokalgeschichtsschreibung auskommen muß, steht in krassem Gegensatz zu der vergleichsweise üppigen Fülle, mit der die knapp vier Jahre belegt sind, in denen Karl Friedrich Bahrdt sich in Gießen aufhielt. Die epische Breite, mit der sich der in der Exposition des vorliegenden Aufsatzes skizzierte Antrittsgottesdienst schildern ließe, könnte gleich auf drei verschiedene Gewährsleute mit unterschiedlichen Perspektiven und Positionen zurückgreifen, eine Vielfalt, die man sonst für den Gießener Bereich in diesem Jahrhundert vergeblich suchen wird. Die außerordentliche Publizität,9 die nahezu jeden Schritt Bahrdts begleitet, erscheint aus heutiger Sicht um so weniger nachvollziehbar, wenn man den vergleichsweise wenig spektakulären Hergang seines Aufenthaltes in Gießen dagegenhält.

Mitte Mai 1771 kam Bahrdt von Erfurt über Leipzig, wo er sich von seinen Eltern verabschiedet hatte, nach Gießen, gegen den Widerstand des Kopfes der hessischen lutherischen Orthodoxie Johann Hermann Benner, der schon vor Bahrdts Ankunft die öffentliche Meinung gegen den 'Ketzer' mobilisiert hatte. Kanzel und Katheder wurden von beiden Seiten als Forum für Sticheleien, Spötteleien und ironische Anspielungen gegen den jeweiligen Gegner genutzt, während sich gleichzeitig ein umfangreicher Kleinkrieg gewissermaßen auf dem Dienstweg über die Universitätsbehörde, die Kirchenverwaltung und das Ministerium in Darmstadt entspann. Im Herbst 1771 versuchte Bahrdt, die traditionell mit der Gießener Professorenschaft verbundene, zwischenzeitlich aber darniederliegende Frankfurter gelehrte Zeitungen wieder in Gang zu bringen, wurde aber durch den Darmstädter Kriegsrat Johann Heinrich Merck im letzten Moment ausgebootet, der die Redaktion des u.a. durch die Mitarbeit Goethes und Herders berühmt gewordenen Jahrgangs 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen - so der neue Titel des Rezensionsorgans - übernahm.

Nachdem Benner, der unermüdlich gegen Bahrdt arbeitete, gesehen hatte, daß auf der Universitätsebene nurmehr wenig gegen den von Darmstadt aus protegierten Gegner zu unternehmen war, wollte er zumindest im kirchlichen Bereich den Einfluß Bahrdts gering halten. Er mobilisierte das Konsistorium gegen Bahrdt und versuchte, ein von Bahrdt angestrebtes Assessorat beim Konsistorium zu hintertreiben, was ihm aber nicht gelang. Das sicherste Mittel, einen mißliebigen Kollegen beim Landgrafen in Mißkredit zu bringen, war es, wenn man dessen liebstes Spielzeug, das Militär, tangierte. Am meisten schadete sich Bahrdt dann auch, als er sich wegen einer Kleinigkeit in einen Konflikt mit einem Gießener Offizier ziehen ließ.

Im Jahr 1772 begannen die verfeindeten Parteien zudem, sich in publizistischen Streitschriften zu befehden, wobei der Ton zunehmend schärfer wurde. Ein von Bahrdt projektiertes Predigerseminar wurde zwar eingerichtet, die Leitung aber zu seinem Ärger seinem Kollegen Schulz übertragen. Bei einem Besuch des Landgrafen in Gießen konnte Bahrdt seine besondere Fähigkeit ins Spiel bringen, im persönlichen Umgang seinen Gesprächspartner für sich einzunehmen. Das Wohlwollen des Landgrafen, das Bahrdt sich bei dieser Gelegenheit sichern konnte, sollte ihm im Gießener Intrigenspiel noch eine ganze Zeit lang den Rücken stärken. Mit dem folgenden Jahr (1773) trat Bahrdt in der Nachfolge Mercks die Redaktion der Frankfurter gelehrten Anzeigen an und übernahm 1774 die in Mietau erscheinende Allgemeine theologische Bibliothek. Nach dem Tode der Landgräfin, in deren Gunst Bahrdt ebenfalls gestanden hatte, nutzte der Darmstädter Erstminister Friedrich Karl von Moser, der gleichzeitig Kurator der Universität war, eine neuerliche öffentliche Kampagne gegen Bahrdt, ihn aus Gießen abzuschieben.

Bahrdt, der inzwischen das Angebot zur Leitung einer philanthropischen Erziehungsanstalt in der Schweiz in der Tasche hatte, ließ sich auf einen Stellenpoker mit Moser ein, indem er sehr hohe und, wie sich herausstellte, überzogene Forderungen für seinen Verbleib in Gießen stellte. Auch der Landgraf, der inzwischen von seinem Feldprediger Venator gegen Bahrdt eingenommen worden zu sein scheint, versuchte nicht mehr, Bahrdt in Gießen zu halten.



1.3. Bahrdts Rolle in der Heiratspolitik des Hofes in Darmstadt

Da der äußere Ablauf von Bahrdts Aufenthalt in Gießen in hohem Maße von den einigermaßen unübersichtlichen politischen Strukturen in der Landgrafschaft abhing, ist zum Verständnis der Zusammenhänge eine zumindest grobe Kenntnis der Machtverhältnisse hilfreich. Der Landgraf Ludwig IX., von Bahrdt in der Geschichte seines Lebens als "bekantlich schwachen Geistes" (Bd. 2, S. 174) bezeichnet, interessierte sich wenig für die Regierungsgeschäfte. Fernab von dem größten Teil seiner Länder widmete er sich hingebungsvoll und fast ausschließlich seiner Militärkolonie in Pirmasens. Die zivile Regierungsarbeit oblag einem vom Landgrafen nicht sehr geschätzten Beamtenapparat in Darmstadt, seit 1767 unterstützt durch die umsichtige Landgräfin Caroline, die in diesem Jahr mit ihrem Hofstaat in die Residenzstadt übergesiedelt war. Darmstädter Regierungskunst war durch die Fähigkeit gekennzeichnet, an den oft schrulligen und eigenwilligen Vorstellungen des Landgrafen vorbei pragmatische politische Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Kein Wunder, daß es häufig zu Mißverständnissen, Intrigen und Komplikationen kam.

Durch Immediatgesuche beim Landgrafen, der wegen seines Mißtrauens gegenüber den Zivilbeamten nur allzu geneigt war, allen möglichen Einflüsterungen ein offenes Ohr zu schenken, konnten ganze Entscheidungsprozesse des Ministerialkollegiums relativ leicht außer Kraft gesetzt werden. Hinzu kam eine äußerst fatale Finanzlage, die das Regieren in Hessen-Darmstadt zur Gratwanderung werden ließ. Die Ablösung des Darmstädter Erstministers Andreas Peter Hesse durch Friedrich Karl von Moser im Jahr 1772 hat diese zerrüttete Situation der Staatsfinanzen zum Hintergrund. Moser sollte durch ein umfangreiches Reformprogramm den Staatshaushalt konsolidieren, eine Aufgabe, an der er trotz zahlreicher ökonomischer und verwaltungstechnischer Verbesserungen letztendlich scheitern sollte. Die andere Schiene, auf der man den drohenden Staatsbankrott abzuwehren suchte, war die Heiratspolitik der Landgräfin, die äußerst pragmatisch und geschickt zu Werke ging.

Bahrdts Berufung nach Gießen stand, und zwar wesentlicher, als die bisherige Forschungsliteratur bemerkt hat, in ihren politischen Implikationen im Zusammenhang mit den Plänen der Landgräfin, eine ihrer Töchter - die Wahl fiel später auf Wilhelmine, - mit dem russischen Großfürsten Paul zu vermählen. Dabei sollte im Planspiel der Landgräfin Bahrdt offensichtlich eine Schlüsselrolle bei der äußerst problematischen Frage eines damit für die Prinzessin unumgänglichen Religionswechsels zukommen. Bereits am 30.Okt. 1771 konnte Bahrdts Vater seinem Sohn gegenüber einen solchen Zusammenhang andeuten:

Daß die Landgräfin dich der Toleranz wegen so ästimirt, hat vielleicht außer dem jetzigen allgemeinen Geschmack, auch seine besonderen Ursachen, die ich nur noch als ein Geheimniß erfahren habe - und dir kaum soviel zu sagen getraue, daß du vielleicht gar noch über eine Angelegenheit des Gewissens könntest zu Rathe gezogen werden, die eine Religionsveränderung betrifft, zu deren Entscheidung dir Platons Schrift dienen könnte.10

Mit diesen Hinweisen zeigte sich der ältere Bahrdt in bemerkenswert hohem Maße informiert, denn der Darmstädter Hof war noch bis in das Jahr 1773 hinein um strikte Geheimhaltung der Angelegenheit bemüht.11 Außerdem zeugte der Rat von Bahrdts Vater, sich in diesem Zusammenhang über die Schrift des Petersburger Erzbischofs Jeremach Platon: Rechtgläubige Lehre oder kurzer Auszug der christlichen Theologie, zum Gebrauch S.K.H. des Großfürsten Paul Petrowitsch. (Riga 1770) kundig zu machen, von äußerster Sachkenntnis, denn es sollte derselbe Metropolitan Platon sein, der 1773 tatsächlich den Religionswechsel der Darmstädter Prinzessin vorzubereiten und zu vollziehen hatte.12 Hermann Bräuning-Oktavio vermutet, der im Zusammenhang mit den russischen Heiratsplänen notwendige Religionswechsel mochte "im Lichte von Bahrdts Toleranzidee weniger bedenklich erscheinen".13 Die Landgräfin selbst verfügte hinsichtlich der Frage der Religionszugehörigkeit allerdings über ein unproblematisch tolerantes Selbstverständnis. Man müsse, so das Selbstbekenntnis Carolines in einem alles andere als unverbindlichen Brief an Barbara von Zuckmantel, "praktische Nächstenliebe üben, wobei es gar nicht so sehr darauf ankommt, ob sie christlich ist oder nicht, dergestalt, daß man das Gute um seiner selbst willen tut. Diese Vorstellungen, in denen ich leben und sterben will, sind mein Bekenntnis."14

Mit einer solchen Einstellung wäre der erforderliche Religionswechsel der Prinzessin Wilhelmine kein großes Problem gewesen, wenn nicht der Landgraf insofern Schwierigkeiten gemacht hätte, daß er keine Anstalten zeigte, in einen Religionswechsel seiner Tochter einzustimmen. Sein verlängerter Arm in Darmstadt war in dieser Hinsicht der Hofprediger und Erzieher der Prinzessinnen Ludwig Benjamin Ouvrier, dessen vor wenigen Jahren aus Familienbesitz veröffentlichter Autobiographie wir nähere Aufschlüsse über diese Zusammenhänge verdanken.15 Als Ouvrier, der ein strikter Gegner des Religionswechsels seiner Schülerin war, erfuhr, daß von ihm verfertigte Charakterschilderungen der Prinzessinnen zwecks Beförderung der projektierten Vermählung zusammen mit eigens angefertigten Porträts der Heiratskandidatinnen nach Petersburg geschickt worden waren, fühlte er sich hintergangen:

Weil ich es vermutete und selbst durch die Prinzessin Amalie erfuhr, was es war, hielt ich es für meine Pflicht, die Prinzessinnen und besonders Wilhelmine wohl zu belehren. Ich ging also die letzte Zeit meines Unterrichts bei denselben die russische Geschichte durch und zeigte ihnen das Schlüpfrige und Gefährliche dieses Thrones. Auch erklärte ich ihr die griechische Religion, und die Verbindlichkeit, der Wahrheit treu zu sein.16

Noch am Tag vor der Abreise der Darmstädter Hochzeitsgesellschaft nach Petersburg versuchte Ouvrier, der eigens von Gießen nach Darmstadt geeilt war, die Standhaftigkeit der Prinzessin Wilhelmine hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit zu beschwören:

Vor der Abreise ging ich von Gießen nach Darmstadt und nahm den Tag der Abreise und morgends kurz vor derselben Gelegenheit, die Prinzessin, auf die nach meiner Vermutung ohnehalber die Wahl fallen würde, in ihrem Kabinett zu erinnern, was sie Gott und der Wahrheit schuldig sei. Sie tröstete mich damit, daß ich nichts zu befürchten habe und selbst ihr Herr Vater ihr diese Lehre gegeben. Sie habe die Versicherung, wenn sie gewählt werden würde, ihre Religion ungekränkt zu behalten.17

Es hat den Anschein, als ob der angebliche Verzicht der russischen Seite auf den Religionswechsel vorgeschoben wurde, um den Landgrafen zu beruhigen, denn schon bald nach der Ankunft in Petersburg wurden die notwendigen Schritte eingeleitet.18 Insgeheim hatte die Landgräfin ihre Einwilligung zum Übertritt der Prinzessin zur griechisch-katholischen Staatsreligion erteilt, ohne daß der Landgraf befragt worden war. Entsprechend aufgebracht war der Landgraf dann auch, als der Kurier mit der offiziellen Werbung in Pirmasens eintraf. In seiner Empörung jagte er Moser im Eiltempo nach Petersburg, doch aufzuhalten vermochte er nichts mehr.

Vieles spricht dafür, daß Bahrdt ursprünglich dazu ausersehen war, den Landgrafen wo möglich von der Notwendigkeit eines Religionswechsels der Prinzessin zu überzeugen oder wenigstens seinen Vorbehalten die Spitze zu nehmen. Daß gerade Bahrdt dazu die besten Voraussetzungen mitbrachte, liegt auf der Hand, wobei nicht nur sein Toleranzbegriff den Anforderungen entsprach. Er war auch als Mensch genau der Typ, um auf den eigenartigen und eigenwilligen Charakter des Landgrafen den nötigen Eindruck zu machen, was sich im übrigen beim Besuch des Landgrafen in Gießen bestätigen sollte. In Anbetracht der Sachlage war die vermutlich von dem Kurator der Universität Andreas Peter Hesse ausgeklügelte Vorgehensweise genial, zunächst Bahrdt auf die theologische Professur nach Gießen in Wartestellung zu bringen und ihn zu gegebenem Anlaß im Austausch mit dem in Darmstadt zum Problem werdenden Ouvrier zur Verfügung zu haben. Die Schwierigkeit lag einzig darin, beim Landgrafen keinen Verdacht über die wahren Beweggründe des Stellenkarussells zu erwecken.

Die Versetzung Ouvriers nahm, wie er selbst berichtet, die Landgräfin persönlich in die Hand.19 Die Hoffnungen, die sich Bahrdt auf die Hofpredigerstelle in Darmstadt machte, dürften also ihren realen Hintergrund gehabt haben, ohne daß er sich unter den gegebenen Umständen auf konkrete Zusagen hätte berufen können.20 Als Bahrdt wenige Wochen vor der Abreise der Landgräfin am 1.März 1773 um die durch den Abgang Ouvriers freigewordene Hofpredigerstelle einkam, zog Moser, der inzwischen Hesse als Erstminister und Kurator der Universität abgelöst hatte, nicht mit und zeigte sich über die 'Anmaßung' Bahrdts empört. Auf sein Gutachten hin verschob der Landgraf die Neubesetzung der Stelle und erklärte Bahrdts Gesuch für unstatthaft.

Ob Moser in die Pläne der Landgräfin eingeweiht war oder nicht, sei dahingestellt. Durch eine von ihm unterstützte Berufung Bahrdts nach Darmstadt hätte er jedenfalls leicht in eine prekäre Lage geraten können. In dieser Situation dürften die Gießener theologischen Streitereien ein willkommener Anlaß gewesen sein, Bahrdts Anwartschaft auf die Hofpredigerstelle ein für allemal im Keim zu ersticken.21

Die Konfusion in Gießen hinsichtlich der Besoldungen und der Predigerwohnungen - Bahrdt mußte Ouvrier seine bereits von ihm bezogene Wohnung räumen und vertrieb nun seinerseits Schwarz aus dessen Wohnung,22 - wäre vor dem skizzierten Hintergrund weniger als ein unbeabsichtigtes Versehen Hesses zu betrachten als vielmehr die zwangsläufige Folge der Durchkreuzung seiner Pläne.



1.4. Streitigkeiten innerhalb der Theologischen Fakultät als Ausdruck der Modernisierungskrise der Universität Gießen

Wie groß die Auswirkungen der politischen Zusammenhänge in Darmstadt auch auf Bahrdts Lebensverhältnisse gewesen sein mögen, so zeigte doch die Entwicklung in Gießen selbst eine gewisse Eigendynamik. Gießen war damals die Hauptstadt der Provinz Oberhessen, eines der beiden größten Landesteile der Landgrafschaft. Die ausgesprochen landwirtschaftliche Ausprägung der Region bestimmte auch das bürgerliche Leben in der Stadt. Neben der Munizipalität waren das fürstliche Regierungspräsidium, das fürstliche Konsistorium, die Landesuniversität und die Garnison die Institionen, die die politische Struktur der Stadt prägten. Ämter in den verschiedenen Bereichen wurden häufig in Personalunion bekleidet oder innerhalb fester Familienbindungen vergeben. Gießen wäre vermutlich in Provinzialität versunken, wenn nicht durch die unmittelbare Nähe der Universitätsstadt Marburg und der Reichskammergerichtsstadt Wetzlar, durch das bequem in einer Tagesreise erreichbare Frankfurt und, nicht zu vergessen, durch das Bad Ems, das gewissermaßen das Hausbad und die Sommerfrische der Region war, dem Gießener Bürgertum auch ein Zug von Weltläufigkeit verliehen worden wäre.

Für den engeren akademischen Bereich waren darüber hinaus für die hier interessierende Zeit vor allem Kontakte nach Göttingen und Erfurt von Bedeutung. Die Geschicke der Universität lagen zunächst einmal in der Hand des Kurators, der gleichzeitig der Erstminister in Darmstadt war. Zwischen 1771 und 1775 waren dies, wie schon erwähnt, erst Hesse und dann Moser. Dennoch war die Position der Akademie durch eine weitgehend in Eigenregie betriebene Finanzpolitik sehr stark, - Bahrdt rekurriert darauf in der Geschichte seines Lebens (Bd. 2, S. 156 f.). Die Gießener Universität war u.a. ein relativ unabhängiges Wirtschaftsunternehmen; ein großer Teil der Besoldung der Professoren bestand aus Naturalien, vor allem Getreide, womit sich ein schwunghafter und besonders in Zeiten der Teuerung profitabler Handel treiben ließ. Die Personal- und Besoldungsentscheidungen im Bereich der Universität tangierten die fundamentalen Interessen der Professorenschaft insgesamt, die auch bei der Vergabe der zahlreichen Nebenämter ein entscheidendes Wort mitzureden hatte. Daß ein solches System der weitgehenden Selbstverwaltung nicht nur seine Vorteile hatte, wie Bahrdt glauben machen will, liegt auf der Hand, und die zahlreichen Zänkereien und Intrigen innerhalb der Gießener Professorenschaft waren nicht zuletzt bereits in der ökonomischen Verwaltungsstruktur der Universität angelegt.

Wissenschaftsgeschichtlich fällt Bahrdts Aufenthalt in Gießen in eine Umbruchzeit, in der die traditionelle Prädominanz der Theologie durch die Jurisprudenz abgelöst zu werden begann, eine Entwicklung, die in der Person des aufgeschlossenen und energischen Juristen und Kanzlers der Universität Johann Christoph Koch sinnfällig war. Gleichzeitig war Moser bestrebt, die Kameralistik grundlegend zu erneuern. Er hatte nämlich erkannt, daß seine angestrebte Verwaltungsreform einen Beamtentypus erforderte, der mit den neuesten wirtschaftswissenschaftlichen und statistischen Kenntnissen vertraut war. Bereits unmittelbar nach seiner Amtsübernahme hatte Moser versucht, einen der bedeutendsten Statistiker der Zeit, den Göttinger Professor Beckmann, nach Gießen zu ziehen. Nach einem zwischenzeitlichen Rückschlag durch den Mißgriff der Berufung Kösters, der den in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu entsprechen vermochte, resultierte dann aus diesen Bemühungen Mosers die Gründung der ersten ökonomischen Fakultät in Deutschland unter der Ägide des Physiokraten Schlettwein.

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung erscheinen die Streitigkeiten innerhalb der theologischen Fakultät als Ausdruck ihrer Krise, als Grabenkämpfe eines längst überfälligen Rückzuges der in ihren Grundfesten bedrohten lutherischen Orthodoxie. Als solche mußte Bahrdt die Angriffe gegen seine Person auch ansehen. Die ihm häufig zugeschriebene Überheblichkeit in diesen Auseinandersetzungen sind seinem Wissen um den Anachronismus der gegen ihn vorgebrachten Argumente und Polemiken zuzuschreiben. Im Vergleich zum Entwicklungsstand der theologischen Wissenschaften im übrigen Deutschland galt es in Gießen, versäumte Lektionen nachzuarbeiten.23 Die theologische Fakultät in Gießen, an ihrer Spitze der bald 80jährige Benner, hatte sich in einer mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Auseinandersetzung mit dem Pietismus zur Hochburg der lutherischen Orthodoxie entwickelt und ihre Vormachtstellung behauptet.24 Die Berufung ausgerechnet Bahrdts auf einen theologischen Lehrstuhl nach Gießen wurde in der deutschen Öffentlichkeit mit neugierigem Unverständnis aufgenommen und stellte für die etablierte Gießener Geistlichkeit eine enorme Provokation dar.

In Bahrdts Geschichte seines Lebens ist an verschiedenen Stellen vom 'Ton' die Rede, der z.B. in Erfurt oder Gießen geherrscht habe. Dieser äußerst vielschichtige Begriff ist mit der heute geläufigen Wendung 'Umgangston' nur unzureichend charakterisiert. Zur Erläuterung ist ein Zusammenhang in Betracht zu ziehen, auf den Klaus Epstein in seiner Studie über die Anfänge des Konservativismus in Deutschland aufmerksam gemacht hat. Als eine der zentralen sozialpsychologischen Kategorien, die eine Konsolidierung der konservativen Bewegung in Gang setzten, kristallisiert er nämlich heraus, daß die Weltanschauung der Aufklärung "im wesentlichen einen Sieg diesseitiger, materialistischer und hedonistischer Werte über die Jenseitsorientierung, den Spiritualismus und Asketismus der christlichen Tradition brachte."25 Die freie Denkweise radikaler Aufklärer wie Bahrdt und ihre größere Bereitschaft, überkommene Formen und Inhalte fundamental in Zweifel zu ziehen, schlug sich auch auf ihr gesellschaftliches Verhalten nieder. Bahrdt suchte den persönlichen Kontakt zu Kreisen, die sich durch Freizügigkeit und Ausschweifung mit einem avantgardistischen Flair umgaben und sich in einer Rolle gefielen, in der sie durch provokatives Auftreten ihre konservative Umgebung zu schockieren wußten. Dies äußerte sich nicht nur in einer Enttabuisierung der Sprache, sondern auch in einer partiellen Überschreitung sexueller Schranken. Bahrdts Schwierigkeiten mit seiner Ehefrau, die in solchen Verhaltensweisen eine Bedrohung ihrer sozialen Stellung sah, sind daher unmittelbar verständlich, und selbst ein psychischer Krankheitszustand der Bahrdtin, wie er von Bahrdt behauptet und von Volland bestritten wird, wäre angesichts ihrer fundamentalen Verunsicherung ohne weiteres einsehbar. Daß im Zusammenhang mit Bahrdts Hedonismus auch eine sozialkritische Komponente eine Rolle spielte, verrät uns wiederum vermutlich Höpfner als Gießener Gewährsmann Schlichtegrolls:

Einst kam Graf Zech, Chursächs. Subdelegatus bey der Kammergerichts-Visitation zu Wetzlar, nach Gießen, um B. zu hören. Er war entzückt über die Predigt und machte B. einen Besuch. Nach einigen Gesprächen bot B. dem Grafen eine Partie L'Hombre an. Der Graf, ein sehr religiöser Mann, nahm diess sehr übel, da er es nicht nur für unschicklich für einen Prediger hielt, sondern es auch ganz gegen den guten Ton war, einem Manne von Stande bey der ersten Visite ein Spiel anzubieten.26

Eine solche soziale 'Unbotmäßigkeit' läßt sich am ehesten als eine Jovialisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen verstehen. Soweit diese in halboffiziellen Zusammenhängen zum Tragen kommt, verbindet sich mit ihr eine Tendenz zur Nichtachtung tradierter gesellschaftlicher Normen. Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt man, wenn man die Curialia analysiert. Bräuning-Oktavio hat die Devotionsfloskeln in den Briefen Bahrdts im Vergleich zu den "Wortungeheuern eines anmaßenden reichsstädtischen Kanzleistils" Goethes und Schlossers als "leidlich erträglich"27 charakterisiert. Vergleicht man damit die weitere Entwicklung hin zu dem Gießener Personenkreis, der der Deutschen Union nahestand, so läßt sich der Befund noch vertiefen, wo eine Reduzierung der Curialien teilweise bis zur geradezu trotzig anmutenden bloßen Namensnennung feststellbar ist.28 Folgt man den verschiedenen Augenzeugenberichten, so waren es in Gießen auf seiten der Professoren besonders Baumer und Koch, die sich neben Bahrdt des freieren Umgangstones befleißigten, doch zählten zu der 'Bahrdtischen Partei', wie der Personenkreis im Zuge der zunehmenden Polarisierung genannt wurde, etwa hundert Studenten 29 und ein großer Teil der oberhessischen Geistlichkeit.30

Für die Gießener Gerüchteküche 31 war Bahrdt ein gefundenes Fressen. In der Stadt kursierten gedruckte Spottgedichte auf Bahrdt32, und häufigere Besuche im benachbarten Wetzlar, wo durch das dort angesiedelte Reichskammergericht auch der Bordellbetrieb florierte, waren Anlaß genug, Bahrdt ins Gerede zu bringen.33 Ebenso waren die akademischen Katzbalgereien, die sich die Mitglieder der theologischen Fakultät leisteten, stadtbekannt. Kaum ein Bericht über Bahrdts Gießener Zeit versäumte es, die eine oder andere Anekdote, die Bahrdt sich leistete, vorzutragen, so daß sich mit der Zeit das Bild eines notorischen Stänkerers verhärtete.34 Bereits ein kurzer Blick auf die Vorlesungsverzeichnisse dieser Zeit zeigt aber, daß solche Provokationen durchaus auf Gegenseitigkeit beruhten. So kündigte Benner für das Sommersemester 1772 "öffentliche Disputirübungen gegen den Socianismus"35 an, die er unter folgender Bemerkung im Wintersemester fortzusetzen gedachte: "Bey der Erklärung der Geschichte des Socianismi, worinn er fortfahren wird, wird er sich bemühen, die Apostel dieser Sekte, und die entgegengesetzte Schriften zu nennen, auch die beste Methode angeben, wie diesem Unsinn zu steuren seye."36

Auch der pflichtschuldige Schwarz bot eine außerordentliche Vorlesung über Benners Dogmatik an, bei der er durchgängig darauf sehen wollte, "daß er den Gegnern, insbesondere den Anfällen der Socinianer begegne", und wollte wöchentlich einige Stunden einem "Antideistico" widmen.37 Im Sommersemester wollte Benner laut Ankündigung die Dogmatik, "und zwar keine populäre sondern eine gründliche, und durchaus mit Erläuterung der Beweißstellen begleitete lesen, weilen er es für Schande für einen künftigen Lehrer der Religion, für die Wiedersacher aber sehr erwünscht hält, nichts mehr als populäre Kenntnisse zu haben."38

Um die Tragweite dieser kaum noch verhüllten Seitenhiebe gegen Bahrdt, die im Rahmen von Vorlesungsankündigungen völlig unerhört waren, richtig einschätzen zu können, muß man berücksichtigen, daß sie nicht nur im Giesser Wochenblatt, sondern üblicherweise auch in auswärtigen Zeitungen erschienen. Auch aus den Schwarzschen Reminiszenzen läßt sich ersehen, daß Bahrdt, was Sticheleien und Neckereien gegen Kollegen angeht, keineswegs alleine dastand.39

Die Lehrtätigkeit Bahrdts in Gießen ist vor allem durch zwei Schwerpunkte gekennzeichnet, durch die dem erstarrten akademischen Lehrbetrieb der theologischen Fakultät neue Impulse gesetzt wurden: die Nutzbarmachung philologischer und historischer Kenntnisse für die Interpretation der Bibel und die praktische Verbesserung des Predigtwesens. In beiden Bereichen setzte Bahrdt Akzente, die auch noch nach seinem Abzug aus Gießen ihre Wirksamkeit behielten.40

Der Zeitraum, während dessen Bahrdt sich in Gießen aufhielt, zeichnet sich vor allem durch eine äußerst fruchtbare schriftstellerische und publizistische Tätigkeit Bahrdts41 aus, angefangen vom Verfassen von Rezensionen und Programmen, über die Redaktion der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und der Allgemeinen theologischen Bibliothek, über die Herausgabe mehrerer Schriften Gerstenbergs, die Redaktion und Publikation eingesandter Beiträge zu seinen, den zeitgenössischen Diskurs der Aufklärungstheologie widerspiegelnden Sammelwerken, bis hin zu verschiedenen eigenen selbständigen Veröffentlichungen aus dem Themenbereich der Theologie. Darüber hinaus hatte er, wenn man Volland glauben darf, bereits in Gießen seine Autobiographie begonnen, angeblich um seiner Frau im Falle unvorhergesehener Ereignisse eine Altersversorgung zu sichern.42

Aus dieser umfangreichen Schriftstellerei ragen vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion drei Komplexe heraus, die hier kurz zu berühren sind. Der erste Bereich umfaßt die in ihren Anfängen noch auf die Erfurter Zeit zurückgehenden Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz (2 Bde. 1770/1771) und gewissermaßen deren Fortsetzung, die Vorschläge zur Aufklärung und Berichtigung des Lehrbegriffs Unserer Kirche (2 Bde. 1771/1773), die wegen ihres unverhohlenen Anspruchs, die evangelische Kirche von innen heraus radikal zu verändern, der lutherischen Orthodoxie, namentlich Benner, als äußerst gefährlich erschienen. Kaum minder provokativ war Bahrdts Edition eines Werkes von einem seiner Erfurter Freunde, Jakob Heinrich von Gerstenberg, mit dem Titel Eden, das ist, Betrachtungen über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten (1772)43, dessen Anliegen in erster Linie es war, die Existenz des Teufels zu bestreiten, eine Tendenz, die von Bahrdt in der Vorrede (S. 11 f) besonders herausgestrichen wurde:

"Solte die Religion nicht vielmehr gewinnen, wenn wir durch allmählige Verwandlung dieser Hypothese [daß der Teufel lediglich die Personifikation eines abstrakten Begriffes sei] in Wahrheit, die ganze Lehre vom Teufel aus der christlichen Kirche zu verbannen, die Menschen von ihrem Aberglauben zu reinigen, und sie nicht mehr auf den Teufel, der im Finstern spuket, sondern auf den moralischen Teufel, das heißt, auf das in ihnen wohnende Böse, und auf die äusserlichen Reitzungen zur Sünde, zurückführten?"

Wie brisant diese auch heute noch modern anmutenden Vorstellungen waren, beweist ihre Einkleidung in Frageform. Die öffentlichen Gegenschriften, die Gerstenbergs Eden hervorrief, wurden durch den Pfarrer Keyser in Massenheim, einen Parteigänger Benners, angeführt. In den Streit um die Existenz des Teufels griffen aber später auch Schwarz und vor allem Köster ein.

Unter den in Gießen entstandenen Schriften Bahrdts erregte das meiste Aufsehen seine aktualisierte Bibelübersetzung Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen (1773/1774), die u.a. Goeze, Goethe und Lessing auf den Plan rief. Seitens der Person Goethes sah sich Bahrdt einer Kritik ausgesetzt, die sich unter ästhetischen Prämissen neu zu formieren begann. Bahrdts entmystifizierende Bibelübersetzung44 wurde als unpoetische Bilderstürmerei empfunden und als geschmacklos abgelehnt. Goethes satirische Verdikte gegen Bahrdt waren, zumindest in Gießen, die Zugnummern in den konservativen Gesellschaftszirkeln.

In der Literatur über Bahrdts Gießener Zeit spielen zwei von ihm gegen seine Kollegen Schulz und Ouvrier gerichtete Rezensionen, die im Januar 1773 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen erschienen waren, eine gewisse Rolle, insofern sie gemeinhin als Bruch eines von Bahrdt selbst vorgeschlagenen und vom Landgrafen sanktionierten Stillhalteabkommens gesehen wurden.45 Damit habe Bahrdt jeglichen guten Willen vermissen lassen und eine schier unverständliche Unklugheit an den Tag gelegt. Die von Diehl erstmals geäußerte psychologische Motivierung, "in Bahrdts schwarzer Seele" seien "furchtbare Rachegedanken" aufgestiegen46, wurde mehrfach aufgegriffen und verselbständigte sich zu einem festen Bestandteil allgemeinener Charakterisierung Bahrdts. Bechtolsheimer, der ebenfalls meint, Bahrdt sei "von einer gewissen Rachsucht" nicht freizusprechen, neigt sogar dazu, "ihn als Psychopathen zu bewerten."47

Für die Hintergründe, die zu einer der beiden genannten Rezensionen, nämlich die Ouvrier betreffende, führten, liefert die bereits mehrfach erwähnte Lebensbeschreibung Ouvriers einige neue Aufschlüsse, die das negative Bild, das von Bahrdt gezeichnet wurde, korrigieren helfen:

Es stand neben mir als zweiter Burgprediger der zugleich zum Professor extraord. Theologiae ernannte Schwarz. Dieser hatte eine Dissertation gehalten, worin er lehrte, daß nicht die Wunder allein von sich, sondern in Verbindung der Lehre einen wahren Beweiß für die Göttlichkeit unserer Religion abgäben. Diese ganz richtige Bemerkung aber war dem Profess. L.O. Schulz neu, und sah sie als so gefährlich und falsch an, daß er in den damaligen wöchentlichen Gießener Anzeiger oder Wochenblatt etwas Nachteiliges gegen den D. Schwarz einrücken ließ. Dieser vertheidigte sich und bald darauf kam wieder ein heftiger Anfall auf diese Vertheidigung, doch anonymisch. Der Prof. Philosophiae Böhm und dazu Inspector Academiae, welches Amt er bei Antritt der Regierung bekam, aber auch bald wieder verlor, machte eine Anzeige, mit der Bemerkung, wie dergleichen Leistungen der Universität großen Nachteil brächten. Diese Anzeige aber kam, ich weiß nicht, ob aus Versehen oder aus Vorsatz, in die Hände Serenissimi nach Pirmasens, und es wurde eine Untersuchung des Auctoris der letzten insolventen Anzeige im Wochenblatt befohlen. Der damals noch als Vice Canzler angestellte Prof. Koch, der D. Bechtold und ich wurden Commmissarii. Ich erhielte aber blos die Berichte zum Zeichnen von den beyden Commissarii und wurde zu keiner Beratung zugezogen. Beyde waren dabey zu gute Freunde des D. Schulze u. Bahrdt, daß man deutlich sahe, wie sie über die Sache hinausgingen, und dem Bahrdt, welcher schriftlich von der Commission war aufgefordert worden, dann auch schriftlich sich von allem Antheil in dieser Anzeige losgesagt hatte, durchhelfen wolten. Indem der commissarische Bericht abgehen solte, brachte mir der ältere Buchführer Krieger, das eigen Manuscript, welches Bahrdt mit seiner Hand in die Druckerey gegeben hatte. Nun konte ich den Bericht nicht mehr unterschreiben, sondern schickte diese eigenhändige Schrift des D. Bahrdts nach Darmstadt.48

Das Ergebnis war, so berichtet Ouvrier weiter, daß Koch und Bechtold scharfe Verweise erhielten und ihm fortan zu schaden suchten. Die erste Gelegenheit dazu sei dann auch durch die von Bahrdt verfaßte Rezension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen genutzt worden.

Ouvriers Bemerkungen lenken die Aufmerksamkeit auf einen im Zusammenhang mit der beschriebenen Debatte im Giesser Wochenblatt abgedruckten Aufsatz mit dem Titel "Aberglaube und Unglaube"49, als dessen Verfasser mit großer Wahrscheinlichkeit Bahrdt anzusehen ist. Dieser Aufsatz ist als Erwiderung auf einen kurz vorher in derselben Zeitschrift erschienenen polemischen und gegen den Atheismus gerichteten Angriff zu betrachten, dessen Einrückung vor dem Hintergrund der bis dahin in dem Blatt geführten Kontroverse zwischen Schwarz auf der einen und Bahrdt und Schulz auf der anderen Seite als Herabwürdigung der Bahrdtschen Partei aufgefaßt werden mußte. Eine Gegenreaktion war u.a. deshalb nötig geworden, weil "Atheisterey" und "Freygeisterey" in einen Topf geworfen worden waren.50 Der anonyme Verfasser der Replik, der wie gesagt, mit großer Wahrscheinlichkeit Bahrdt ist, bedient sich eines geschickten rhetorischen Schachzuges, indem er nämlich den Aberglauben gegen den Unglauben ausspielt: "Es ist eine Schwachheit, alles zu glauben; und es ist eine Thorheit, nichts zu glauben" (S. 305). Die entsetzlichen Wirkungen, die der Aberglaube hervorgebracht hat, werden anhand zahlreicher Beispiele offenkundiger Mißbräuche des Wunderglaubens aus dem christlichen und nichtchristlichen Bereich erläutert. Implizit wendet sich der Verfasser in der antithaumaturgischen Tendenz seines Aufsatzes gegen lutherisch-orthodoxe Positionen, wie sie vor allem von Schwarz und Köster vertreten wurden.

Die im Giesser Wochenblatt ausgetragene Kontroverse macht deutlich, daß das erwähnte Stillhalteangebot Bahrdts, das von ihm selbst angeblich durch die beiden Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen gebrochen wurde, zu keiner Zeit tatsächlich bestand bzw. eingehalten wurde.

War die von Diehl vorgenommene psychologische Interpolation der Akten hinsichtlich der furchtbare Rachegedanken ausbrütenden schwarzen Seele Bahrdts schon reichlich überzogen, so läßt sich die von Diehl vermittelte Vorstellung eines durch "Angst und Schrecken" geduckten Bahrdt noch weniger bestätigen.51



1.5. Bahrdts Bericht vom 26. Oktober 1772 an den Rektor der Universität als Manifest seines aufklärerischen Selbstverständnisses

In diesem Zusammenhang ist auf ein wichtiges Aktenstück hinzuweisen, das, soweit ich das übersehen kann, an keiner Stelle rezipiert worden ist und das einen ganz anderen Bahrdt erkennen läßt. Es handelt sich dabei um einen zehnseitigen Bericht Bahrdts vom 26. Okt. 1772 an den Rektor der Universität52, in dem er sich über seinen Anteil an den von ihm herausgegebenen Schriften Vorschläge zur Berichtigung und Aufklärung des Lehrbegriffs Unserer Kirche und Eden rechtfertigt. In dem auch rhetorisch interessanten engagierten Plädoyer beruft sich Bahrdt auf das Recht der Publizität von problematischen Schriften, das er aus dem öffentlichen Charakter eines Universitätsgelehrten herleitet, der nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zum selbständigen Denken habe.

Neue Einsichten seien kein Verbrechen, und auch die Theologie dürfe man nicht vom Fortschreiten des Denkens ausnehmen: "Oder will man nie anfangen zu bedenken, daß unsere Väter weder Orakel in Absicht auf Einsichten, noch Päbste waren, in Absicht auf das Recht uns vorzuschreiben was wir vor wahr halten sollen? Ja will man nie einsehen daß unsere Zeiten durch das neue Licht der Sprachwissenschaften, welches die Bibelauslegung erleuchtet, vor jenem unsrer Väter einen unendlichen Vorzug haben?"

Den Vorwurf, die Ruhe der Kirche werde durch solche Schriften gestört, könne er nicht auf sich beziehen, den Lärm machten die "so genannten Wächter Zions welche ungeheißen und ohne Noth in die Kezerposaune stoßen und allen Leuten zurufen: Siehe da ! Nun fangen die Leute an neugierig zu werden. Nun lesen sie erst. Nun saugen sie Gift aus der Arzeney." Weiterhin sei der erhobene Vorwurf, die Akademie komme in einen üblen Ruf, aus der Luft gegriffen:

Ich weiß wohl, daß einige in allen Gesellschaften wo sie hinkommen ausgesprengt haben, es wäre im Zweybrückischen und in Frankfurth ein Verbot da, die Söhne nicht nach Giesen zu schicken. Allein unser Herr RegierungsRath Sues kann diese Herrn auf eine Art beschämen die ihnen unerwartet seyn wird, wenn sie Ihn fragen wollen. Und in Ansehung Frankfurths berufe ich mich auf unsern Herrn ViceKanzler, welcher sich ausdrücklich in Frankfurth darnach erkundigt hat - doch die Sache ist an sich lächerlich.

Außerdem seien seine Gesinnungen bei seiner Berufung ja bekannt gewesen, und es sei dem Hof und der Akademie klar gewesen, was sie erwarten würde. Den Kernpunkt des Plädoyers bildet die Verteidigung Bahrdts gegen die Unterstellung, er habe seinen Professoreneid gebrochen. Hinsichtlich der symbolischen Bücher als Bestandteil der Glaubenslehre, auf die der Eid abgelegt wurde, beruft sich Bahrdt auf Walch, der sie nicht zu den wesentlichen Religionswahrheiten rechne, auf die ihn der Eid verpflichte. Diese "neu modische Erklärung der Eidesformel" habe Bahrdt schon vor seinem Antritt in Gießen öffentlich vertreten, und niemand habe versucht, ihn davon abzubringen:

Wer hätte sich wohl unterstehen wollen mir damal zu melden: Freund! Ihr wollet euch nach Giesen begeben. Aber ich muß euch vorher sagen, daß wir hier eine ganz andere Erklärung der Eidesformel haben, als sie die übrige Geistliche Welt hat. Bey uns heißt auf die symb. Bücher schwören, so viel als: sich anheischig machen daß man jedes Wort und jede Sylbe, folglich alle Definitionen, polemische Subtilitäten, Spracherklärungen, Argumentationen u.d. sie mögen andern ehrlichen Leuten so falsch vorkommen als sie wollen, getreu und ohne alle Ausnahme nachbeten und den Studenten und Zuhörern vorsagen wolle.

Durch eine solche Einschränkung benehme man sich aber Argumentationsmöglichkeiten, die zur Widerlegung grober Irrtümer dringend erforderlich wären, bzw. man widerlege den Gegner nur schlecht, wodurch er eher gestärkt als geschwächt aus dem Streit hervorgehe. Dieses Phänomen lasse sich beispielsweise bei Benner feststellen, der "den Sabellianismus (ich sage dieses ohnbeschadet der übrigen Hochachtung die ich für seine Verdienste hege) in seinen Erwägungen schlecht wiederlegt und folglich unmittelbar befördert hat." Bahrdt bezieht sich hier auf den 1772 erschienenen ersten Band von Benners Schrift Pflichtmäßige Erwägungen die Religion betreffend, auf die unten noch einzugehen ist. Im weiteren Verlauf seines Plädoyers geht Bahrdt auf den Umstand ein, daß Benner in seinen Erwägungen implizit gegen Bahrdt geschrieben habe, da Benner den Professoreneid mit habe abdrucken lassen: "Doch es ist mehr als zu offenbar, daß der angedruckte Eid die unrühmliche Absicht hatte, mich tacite für Eidbrüchig zu erklären, und mir durch dieses Argument eine - gnädige Dimission zu präpariren." Eine solche Entscheidung obliege aber dem Landesherrn, und nicht einem Kollegen. Erst jetzt kommt Bahrdt zu der eigentlichen Beantwortung der Frage nach seinem Anteil an den Vorschlägen zur Berichtigung und Aufklärung des Lehrbegriffs Unserer Kirche und lüftet das Geheimnis, daß die ersten drei Betrachtungen von ihm selbst seien, was man bereits am Stil erkennen könne. Dazu stehe er und lasse es sich auch gefallen, daß bei der Göttinger Fakultät ein Gutachten darüber erbeten werde, welcher Schritt offensichtlich erwogen wurde.

Das Schriftstück zeigt m.E. keineswegs einen von unkontrollierbaren Emotionen geschüttelten Verfasser, sondern eher einen energischen und mit Überlegung vorgehenden Verfechter aufgeklärter und fortschrittlicher Ideen, der trotz aller Widrigkeiten und Intrigen seiner Gegner eine durchgängige und plausible Linie verfolgt. Nicht Angst und Schrecken, sondern Mut und Entschlossenheit in der Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung erscheinen als die charakteristischen Eigenschaften, die der Verfasser des Dokumentes an den Tag legt.



1.6. Publizistische Kampagne gegen Bahrdts Neuerertum

1.6.1. Johann Hermann Benners Pflichtmäßige Erwägungen

Die Phalanx der Streitschriften, die in einem engeren Zusammenhang mit Bahrdts Gießener Tätigkeit stehen53, wird durch Benners Pflichtmäßige Erwägungen angeführt, von denen in Bahrdts Plädoyer für Meinungsfreiheit die Rede war. Benner habe sich, so die in der einschlägigen Literatur vertretene Meinung, in seinen Schriften gegen Bahrdt gewendet, sei aber nie so weit gegangen, ihn namentlich anzugreifen.54 Hinsichtlich der Pflichtmäßigen Erwägungen trifft dies zwar formal zu, doch läßt bereits die erste Seite des "Vorberichts" keinen Zweifel daran, daß die Schrift als eine Replik auf Bahrdts Vorschläge zur Aufklärung und Berichtigung des Lehrbegriffs Unserer Kirche und die Briefe über die systematische Theologie zur Beförderung der Toleranz zu betrachten ist.55 Dabei handelt es sich bei Benners Schrift um eine etwas schwerfällige akademische Widerlegung eines umständlich ausgebreiteten theosophischen Gottesbegriffs, wie er aus der Sicht Benners in den beiden genannten Werken zum Tragen kommt. Kernpunkt der Deduktion Benners ist die Verteidigung der Dreifaltigkeitslehre.

Der zu Beginn des Jahres 1773 erschienene zweite Teil der Pflichtmäßigen Erwägungen ist dagegen als eine ausführliche Replik auf eine Rezension von Benners Abhandlung einer theologischen Moral zum Behuf akademischer Vorlesungen. Gießen 1770. Der Verfasser der in der von Nicolai herausgegebenen Allgemeinen deutschen Bibliothek abgedruckten Rezension (15/2, S. 488 f.) ist der mit Bahrdt befreundete Abt Resewitz. Benner hält aber offensichtlich Bahrdt für den Verfasser, vermutlich weil Bahrdt sich in seinen Vorlesungen in Gießen bereits abschätzig über Benners Moral geäußert hat. Im zweiten Teil der Pflichtmäßigen Erwägungen nimmt Benner u. a. Stellung zu der Frage der Toleranz, die einen wesentlichen Streitpunkt zwischen der lutherischen Orthodoxie und der Aufklärungstheologie ausmachte. Hier (S. 55-80) ist für den Gießener Bereich zum ersten Mal ein Topos formuliert, der später von Schwarz und Köster wieder aufgegriffen werden wird. Benner spricht Bahrdt praktisch das Recht ab, Mitglied der evangelischen Kirche bleiben zu können und nimmt damit bereits Tendenzen vorweg, wie sie später im preußischen Religionsedikt von 1788 verfolgt und politisch umgesetzt werden sollten:

Wer in eine so verehrenswürdige Gesellschaft eintrit, wie die Kirche ist, der verbindet sich zu heiligster Beobachtung aller wesentlichen Verfassungen derselben, ohne welche sie das nicht bleiben kann, was sie ist. Er nimmt zugleich auf sich, seiner Gemeinschaft mit dieser Kirche verlustig zu werden, sobald er vorsetzlich und halsstarrig jene freywillig übernommene Obliegenheit brechen würde. Fängt ein solches Mitglied an, diese Grundverfassungen heimlich zu mißbilligen, öffentlich anzufechten, feindselige Religionsparthien zu begünstigen, seine Vorgänger und Mitarbeiter im Lehramte zu verunglimpfen, die Zurechtweisende rachgierig zu bedrohen: was thut er alsdenn anders, als er schliesset sich selbst aus, und höret auf, kraft seines eigenen Verhaltens, ein Mitglied derjenigen Kirche zu seyn, deren erklärter Feind er vorsetzlich geworden ist. (S. 57 f.)

Auch ein weiterer Topos, der für das Selbstverständnis der Gießener Geistlichkeit in ihrem Verhalten gegenüber Bahrdt kennzeichnend werden sollte, ist hier bereits vorgeformt, die Formel nämlich, daß Bahrdt sich sein Scheitern in Gießen aufgrund seiner mangelnden Integrationsfähigkeit selbst zuzuschreiben habe. Der von Benner geprägte Satz: "Toleriren heisset niemals das tolerirte Böse lieben, das man hassen muß, weil es böse ist." (S. 58) ist Maxime und integrativer Bestandteil des Selbstverständnisses der Gießener lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit und prägt ihr Verhalten gegen Bahrdt. Es fällt auf, daß es von der Hypostasierung der konkreten Existenz des Bösen, wie sie die 'rechtgläubige' Dämonologie vertritt, zu der Besetzung des Bösen mit einer real existierenden Person nur ein kleiner Schritt ist. Diesem Mechanismus fällt Bahrdt in Gießen zum Opfer.56 Benner geht sogar so weit, daß er behauptet, die Religionsverachtung des Ketzers gehöre vor den politischen Richtstuhl (S. 59), wenn der Religionsverächter sich anmaßt, noch Bestandteil der instituierten Religionsgemeinschaft zu sein, denn die Religion habe sich unter den Schutz des Staates gestellt, der über ihre Rechte zu wachen habe. In dem Ruf nach dem Staat als Beschützer der in ihren Grundfesten bedrohten Kirchenverfassung kristallisiert sich hier bereits 1773 im Kern der politische Konservativismus heraus, der von Valjavec und Epstein analysiert worden ist.57



1.6.2. Heinrich Martin Gottfried Kösters Demüthige Bitte

Nicht minder aufschlußreich für das geistige Klima in Gießen ist die anonym erschienene Schrift Heinrich Martin Gottfried Kösters58 Demüthige Bitte um Belehrung an die großen Männer, welche keinen Teufel glauben., die in dem Jahr, als Bahrdt Gießen verließ, erschien und innerhalb von drei Monaten drei Auflagen erlebte. Köster bekleidete in Gießen zwar das Amt eines Professors für Kameralwissenschaften und Geschichte, war aber von Haus aus Theologe und mag sich von daher für bemüßigt gehalten haben, eine Arbeit aus dem Themenbereich der Dämonologie zu publizieren. Köster wendet sich eingangs gegen die Aufklärungstheologie, indem er behauptet, sie wolle die christliche Religion in eine bloße Moral verwandeln, und fragt, was für ein Nutzen der Religion verschafft werde, welche theologischen Hauptschwierigkeiten denn behoben würden, wenn man sich unterfange, "dem Teufel seine Persönlichkeit zu nehmen, und ihn in ein bloßes moralisches Wesen, in ein Bild, oder in eine Allegorie zu verwandeln" (S. 4). Diesen Denkschritt nachzuvollziehen, hindere ihn "das Bischen Philosophie, das ich zu lernen das Unglück gehabt habe" (ebd). Um den Beifall von ein paar Naturalisten zu erhalten, von denen der eine oder andere sich vielleicht einer solchen Religion zuwende, vernachlässigten die Aufklärungstheologen die Pflicht, "ihre Christeinfältige Zuhörer zu belehren" (S. 5). Die Abschaffung des Teufels sei der Anfang, nach und nach werde in arbeitsteiliger Verfahrensweise das gesamte Gebäude der christlichen Lehre untergraben. Die Freigeister, die ständig von Freiheit zu denken und von Toleranz schwätzten, erwiesen sich selbst als intolerant, indem sie die bisherigen Meinungen als abgeschmackt bezeichneten und die Leute Narren hießen, die noch einen Teufel glaubten. Die Arroganz gehe sogar so weit, daß man es guten, ehrlichen Lehrern und Predigern, ja selbst Hochschullehrern zu verweisen suche, wenn sie die Jugend über die Gottheit Christi, seinen Versöhnungstod, die Erbsünde und den Teufel belehrten. Dem aufklärungstheologischen Argument, Christus und die Apostel hätten bei der Bekehrung des halsstarrigen und abergläubischen Volkes der Juden diesen ihre Lehre vom Teufel nicht austreiben können, begegnet Köster mit dem Einwand, daß dadurch die Redlichkeit Christi und der Apostel in Zweifel gezogen werde.

Im weiteren Verlauf der Deduktion, die hier nicht in ihrer gesamten Kleinschrittigkeit vorgestellt werden kann, berührt Köster ungewollt den unauflöslichen Widerspruch zwischen Rechtgläubigkeit und Meinungsfreiheit und gibt so mittelbar eine Begründung für den logischen Zusammenhang von lutherischer Orthodoxie und politischem Konservativismus:

Ich kann mir eine jede Lehre des Christenthums vorstellen, wie mir es beliebt. Dieses ist wahr, in Absicht auf andre Menschen, welche kein Recht haben, mir in meinen Vorstellungen vorzuschreiben. Ich kann überhaupt denken was ich will, und Niemand hat sich darum zu bekümmern was ich glaube, so lange meine Gedanken in meiner Seele verschlossen bleiben. Allein so bald ich rede und lehre, so kann dieses andern Menschen nicht immer gleichgültig seyn. Aus der Freyheit zu denken folgt die Freyheit zu reden und zu lehren nicht unmittelbar, ob man gleich um dieses letztere zu behaupten, jenen Satz so oft einprägt" (S. 25).

Eine solche Auffassung bedeutet, daß es dem einzelnen nicht frei steht, sich "eine selbstbeliebige Vorstellung von irgendeiner christlichen Lehre zu machen", sondern "wenn ich von der Göttlichkeit der heiligen Schrift versichert bin, so muß ich mir eine Vorstellung machen, die der Schrift gemäß ist" (ebd.).

Auf dieser Basis entwickelt Köster seine Dämonologie (S. 30 ff.) und spielt abschließend den Teufel gegen die Aufklärungstheologie aus:

Der Teufel selbst möchte es auch wohl nicht für gut befinden, sich Ihnen näher zu erkennen zu geben. Sollte er sich auch gleich nicht vor Ihnen fürchten - Denn wer kann dieses wissen? so möchte es doch seinem Interesse schwerlich gemäß seyn, Ihnen zu andern Einsichten zu verhelfen. Warum sollte er es nicht mit Dank annehmen, daß man sich so viele Mühe giebt, den Leuten die Furcht vor ihm zu benehmen, und sie sicher zu machen? (S. 54).


1.6.3. Johann Georg Gottlob Schwarz’ Merkwürdige Geschichte

Die sonderbarste unter den drei hier vorzustellenden Streitschriften gegen Bahrdt ist die Merkwürdige Geschichte dreyer Betrüger von 1778, für die vermutlich Johann Georg Gottlob Schwarz verantwortlich ist. 59 Der Text beginnt als eine vom lutherisch-orthodoxen Standpunkt aus geschriebene Gegenschrift zu der berüchtigten materialistischen Schrift De tribus impostoribus (Von den drei Betrügern), in der die drei Religionsstifter Moses, Jesus und Mohammed als Betrüger an der Menschheit dargestellt werden.60 Moses und Jesus werden in der Merkwürdigen Geschichte gegen solche Anwürfe verteidigt, während Mohammed hingegen von der Apologie ausgeschlossen bleibt. Nachdem ausführlich erläutert worden ist, warum Mohammed tatsächlich ein Betrüger sei, die Ehre von Moses und Jesus aber gerettet werden müsse, werden dem Leser drei wirkliche Betrüger an der Menschheit aus dem 16. und 18. Jahrhundert vor Augen geführt: aus Spanien Ignatius von Loyola, aus Frankreich der Bandit Cartouche und aus Deutschland Bahrdt, die dem Publikum in marktschreierischem Ton angekündigt werden (S. 10). Nachdem die beiden Erstgenannten als die größten Betrüger der Zeit dargestellt worden sind, wird ihnen Bahrdt zur Seite gestellt, womit das Pasquill zu seinem eigentlichen Anliegen, der Polemik gegen Bahrdt, kommt (S. 18 ff.). Zunächst werden die an allem schuldlosen Eltern Bahrdts gehörig bedauert, woraufhin sich der Verfasser in einem pornographisch anmutenden Ton über Bahrdts Leipziger Liebesaffäre ausbreitet: "Sie [Bahrdts Leipziger Geliebte Charlotte], der dergleichen Liebkosungen fremd waren [...], erlaubte ihm Küsse und Handlungen. Keuchend schnürte er sie auf; wüthend stürmte er zu, umfaßte sie, zitterte, küßte, küßte feurig, drückte, seufzte halb, küßte feuriger, seufzte ganz und - siegte" (S. 21 f.). Dergleichen lebensnahe Schilderungen waren, wie wir von Laukhard wissen, sonst nur in Kriegers Leihbibliothek unter der Ladentheke zu erhalten. Genüßlich und unter Ausschlachtung der trivialsten Topoi wird die Leipziger Liebesaffäre geschildert und Bahrdt als gewissenloser Verderber der Unschuld charakterisiert. Auf vergleichbarem Niveau wird dann Bahrdts weiterer Lebensweg bis auf das Jahr 1778 beschrieben, bis die Polemik mit einem Appell zur Umkehr an Bahrdt endet.
Die Schärfe, mit der die Polemik gegen Bahrdt teilweise geführt wurde, zeigt sich u. a. an folgendem kleinen Gedicht aus dem Anhang zu der Merkwürdigen Geschichte, das Bahrdt buchstäblich zur Hölle schickt (S. 60):

Den Bösewichtern gehts nicht gut,
Es bringt zuletzt sie ihre Wuth
Zum Teufel in die Hölle.

Geh also hin, verdammter Bahrdt,
Der hier ein Lästrer Jesu ward,
Du kriegst die beste Stelle!

1.7. Gießen als Zentrum der fortgesetzten Anti-Bahrdt-Polemik nach Bahrdts Weggang

Das außerordentliche öffentliche Interesse an Bahrdt, das eine solche, bis ins Extrem gesteigerte Personalisierung der Polemik nach sich ziehen konnte, ist Indiz für die tiefgreifende Herausforderung, die Bahrdts seelsorgerische und akademische Tätigkeit in Gießen für die lutherische Orthodoxie darstellte. Dabei ging es nicht allein um unterschiedliche Auslegungen von Glaubenssätzen, sondern auch um eine völlige Neubewertung der Normen und Wertvorstellungen des täglichen Lebens. Eine aufschlußreiche Bemerkung für diesen Zusammenhang findet sich in der bereits mehrfach erwähnten Lebensgeschichte von Friedrich Heinrich Christian Schwarz (Sp. 337): "Und in der That begann er dort alles umzuwenden, die Zuhörer in den Kirchen und in den Horsälen, den Predigt= und Gesellschafts=Ton, das Studiren, den Lebensgenuß -; wirklich gieng ein neuer Geist von ihm aus. Aber es war ein unruhiger Geist [...]." Schwarz kommt mehrfach auf diesen neuen Geist zu sprechen, der mit Bahrdt in Gießen Einzug hielt, und bemerkt außerdem, daß Bahrdts Wirksamkeit in der oberhessischen Geistlichkeit keineswegs gering gewesen sei und sich auch "unter das Volk" verbreitet habe (Sp. 329): "Seine frivolen Grundsätze löseten hier und da das fromme Gefühl auf, und die Denkart wurde immer lockerer." Insbesondere die Neuesten Offenbarungen seien "so ganz in neumodischem Zuschnitt [...] dem Volk als ein neues Evangelium in die Hände gebracht" worden, daß sie "selbst durch Vermittlung ungeistlicher Pfarrer [...] hier und da in Städtchen und Dörfern lieber gelesen [wurden] als Luthers ehrliche Uebersetzung" (Sp. 338). In manchen Dörfern sei es durch die Bibelübersetzung Bahrdts bis zum Atheismus gekommen. Auch wenn man solche Äußerungen Schwarz’ als überzogen betrachten möchte, so wäre doch der Vorstellung zu widersprechen, als hätte es sich bei der Berufung Bahrdts nach Gießen um einen vorübergehenden Betriebsunfall in der Geschichte der theologischen Fakultät gehandelt, der mit der vielzitierten Eintragung Benners in das Dekanatsbuch der theologischen Fakultät bereinigt worden wäre: Hoc mense divina nos clementia a Bahrdtio liberavit (Diesen Monat hat die göttliche Gnade uns von Bahrdt befreit.).61
Mit dem Abklingen der vor dem Hintergrund von Bahrdts Aufenthalt in Gießen entstandenen Streitschriften im Jahr 1778 setzte eine Diskussion um Bahrdt ein, die sich, lange vor dem Erscheinen der Geschichte seines Lebens verstärkt mit der Biographie Bahrdts befaßte. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch die erwähnte Merkwürdige Geschichte von 1778. Vor allem aber stellte die in demselben Jahr von Köster begonnene Zeitschrift Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen die Plattform für eine ganze Serie von Artikeln über Bahrdt dar, die in lockerer Folge sämtliche den Lebensweg Bahrdts begleitende Umstände registrierten und, anders als der Untertitel der Zeitschrift versprach, durchaus mit einseitigen Kommentaren versah. Besondere Erwähnung verdient ein im Dezemberstück 1779 (S. 877-921) erschienener Aufsatz unter dem Titel "Bahrdtische Sache", der auf Darmstädter Aktenmaterial zurückgriff und der das Ziel verfolgte, die hessen-darmstädtische Regierung gegen den Vorwurf zu verwahren, daß Bahrdt "durch ein allzuhartes Verfahren gegen ihn in einen solchen Zustand der Verzweiflung gebracht worden" (S. 878) sei. Vielmehr sei, so versichert der Verfasser im Stile einer juristischen Fallbeschreibung, "auf die legalste und zugleich großmüthigste Art gegen ihn verfahren worden, und er hat sich seine ihm nachher zugestoßene Unfälle selbst zu verdanken" (Ebd.). Diesem Axiom wurde die Präsentation des Aktenmaterials untergeordnet, wobei auffällig ist, daß mit keiner Silbe einer Beteiligung Mosers an den Begleitumständen der Entlassung Bahrdts gedacht wurde, wie überhaupt jegliche von der Regierung ausgehende Initiative zur Behinderung Bahrdts heruntergespielt wurde. Allem Anschein nach handelt es sich bei dem Aufsatz um eine aus Darmstädter Regierungskreisen lancierte offiziöse Version, die über den Aufsatz in Kösters Neuesten Religionsbegebenheiten auch Eingang in die Gelehrtenlexika und später in die Nekrologe fand.

In demselben Jahr 1779 wandte sich das Gießener Konsistorium, - einer der Wortführer dabei bereits der spätere Hauptvertreter des Gießener reaktionären Konservativismus Ludwig Adolf Christian Grolman - an die Regierung in Darmstadt, mit dem Antrag, das Glaubensbekenntnis Bahrdts, das der Buchhändler Krieger in Gießen vertrieb, verbieten und konfiszieren zu lassen. Nach angestellter Untersuchung erfolgte das Verbot, kombiniert mit einer Geldstrafe für Krieger, die ihm allerdings später, gestützt durch ein ihn entlastendes Universitätsgutachten, erlassen wurde. Daraufhin bat Köster um die Erlaubnis, das Bahrdtische Glaubensbekenntnis, verbunden mit entsprechenden Erläuterungen, in die Neuesten Religionsbegebenheiten einrücken zu dürfen, und erhielt die Genehmigung. 62 Bahrdt, der schon 1777 in seinem in Heidesheim erscheinenden pädagogischen Journal gelegentlich die Gießener Verhältnisse und insbesondere Köster aufs Korn genommen hatte,63 griff dann auch in seinem Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781 seine Gießener Gegner seinerseits an, wobei er sie nicht gerade mit Samthandschuhen anfaßte. Benner, Köster, Ouvrier und Schwarz fanden ihre Artikel, und selbst Bechtold wurde nicht verschont.
Von größerem Informationswert als die vordergründigen und polemischen Artikel über die ehemaligen Gießener Kollegen sind aber die Ausführungen Bahrdts am Ende des Almanachs (S. 204-213), wo "ein paar Anekdoten zur Aufklärung der Bahrdtischen Geschichte" (S. 199) dem Leser nicht vorenthalten werden. Eine dieser Anekdoten bezieht sich auf Benner, dem Bahrdt eine entscheidende denunziatorische Rolle bei dem Wiener Verbot seiner Predigten über das Amt und die Person Jesu zuschreibt. Die andere aber fährt schwerstes Geschütz gegen Köster auf. Anlaß ist eine aus dem Jahr 1778 datierende Affäre um die durch Tumulte seitens der betroffenen Bauernschaft begleitete Einführung eines umstrittenen ABC-Buches in Hessen-Nassau. Nachdem die Bauern beim Reichskammergericht in Wetzlar gegen ihren Fürsten eine Klage eingereicht hatten, erschien ein Artikel Kösters über diese Angelegenheit in den Neuesten Religionsbegebenheiten, der die Regierung in Darmstadt veranlaßte, Köster in Form von zwei geharnischten Reskripten einen scharfen Verweis zu erteilen. Bahrdt, dem es gelungen war, dieser für Köster äußerst peinlichen Dokumente habhaft zu werden, revanchierte sich für den Abdruck der seinen Abzug aus Gießen betreffenden Akten in den Neuesten Religionsbegebenheiten im Jahr 1779 und rückte nun seinerseits die beiden Reskripte in vollem Wortlaut in den Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781 ein (S. 208-213).

Unmittelbar nach Erscheinen des Almanachs muß Köster einen zur Veröffentlichung in seinen Neuesten Religionsbegebenheiten vorbereiteten Rechtfertigungsaufsatz dem Ministerium in Darmstadt zur Zensur vorgelegt haben. In dem noch erhaltenen Begleitschreiben vom 14. 2. 1781 sieht sich Köster genötigt, "einer unter dem Titel: Kirchen- und Ketzer-Almanach herausgekommenen famoesen Schrift, in welcher auch zwey [...] höchstvenerirliche Rescripte eingeschaltet worden, zu gedencken." 65 Aus dem von Hesse aufgesetzten Ministerialgutachten geht hervor, daß Köster die Absicht hatte, Aktenstücke und vor allem Briefe des inzwischen in Ungnade entlassenen Erstministers Moser an ihn als Belege mitabzudrucken, was ihm aber verwehrt wurde: "Ich halte dieses Letztere für höchst ungereimt u. unschicklich, es ist der Ehre des Ministerii nicht gerathen, daß dessen Rescripte zu Abwaschung des Unraths, womit ein Schriftsteller besudelt worden, misbraucht werden, u. es ist uns keineswegs zuzumuthen, in diese gelehrte u. unsaubere Klopffechtereyen sich einmischen zu lassen, u. sich dadurch unangenehme Folgen zuzuziehen." Am 19. 3. 1781 erging eine entsprechende Anweisung an Köster, in der ihm untersagt wurde, "bey schwehrer Ahndung" sich bei seiner Verteidigung "aller Anführung der an ihn ergangenen Ministerial-Reskripten, und von Ministern geschriebenen Briefen" zu enthalten.

1.8. Gießener Parteigänger Bahrdts als Mitglieder und Sympathisanten der Deutschen Union

1.8.1. August Friedrich Wilhelm Crome

In den Zusammenhang der Fragestellung, ob und inwieweit eine nachhaltige Wirkung auf die Gießener Verhältnisse von Bahrdt ausging, ist auch ein Blick auf die Gießener Mitglieder der Deutschen Union zu werfen. Auf den Mitgliederlisten der von Bahrdt ins Leben gerufenen geheimen Korrespondenzgesellschaft erscheinen die Professoren Johann Wilhelm Friedrich Hezel und August Friedrich Wilhelm Crome,66 doch muß man von einem kleinen weiteren Sympathisantenkreis ausgehen, zu dem vor allem noch die Professoren Karl Christian Erhard Schmid, Georg Friedrich Werner und der Privatdozent Johann Ludwig Justus Greineisen sowie der Dillenburger Justizrat Karl von Knoblauch, dessen Name ebenfalls auf den Mitgliederlisten erscheint, zu zählen sind.

Einer der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, ob Bahrdt einen prägenden Einfluß auf die Gießener Verhältnisse über seinen Weggang hinaus ausüben konnte, führt über die Person des Kanzlers Koch, der zwar in der von Pott bearbeiteten Edition der Briefe an Bahrdt nur unter ferner liefen erscheint, der aber auch noch nach 1775 offensichtlich bestrebt war, das enge freundschaftliche Verhältnis zu Bahrdt beizubehalten. Dies schlägt sich beispielsweise in der Berufung des als Lehrer am Philanthropin in Dessau angestellten A. F. W. Crome auf die Professur der Staatswissenschaften nach Gießen nieder. Die Berufungsverhandlungen, die Koch mit Crome um die Jahreswende 1786/87 führte, waren auf Anraten und Befürwortung Bahrdts zustande gekommen.67

Der aus Sengwarden in der Nähe von Jever stammende Crome (1753-1833) hatte in Halle Theologie studiert und danach verschiedene Hofmeisterstellen in Berlin und in der Mark Brandenburg bekleidet. Durch seinen Onkel, den berühmten Geographen und Berliner Oberkonsistorialrat Büsching, war Crome dem Kreis der Berliner Aufklärung näher getreten, der sein politisches Selbstverständnis beeinflußte und zu dem er noch Verbindung hielt, nachdem er 1779 eine Stelle als Lehrer an dem von Basedow gegründeten reformpädagogischen Erziehungsinstitut in Dessau angetreten hatte. Aus einem Brief Wolkes an Iselin vom 1. Sept. 1779 wissen wir, daß Basedow Bahrdt nach seiner Vertreibung aus Heidesheim so unterstützte, "daß er mit seiner Familie nicht Hunger leidet." Cromes Bekanntschaft mit Bahrdt dürfte etwa auf diese Zeit zu datieren sein. Beide waren an dem aufklärerischen Reformprojekt der Dessauer Buchhandlung der Gelehrten und der dazugehörigen Verlagskasse zur Unterstützung von Künstlern und Schriftstellern beteiligt. Außerdem hatte Crome von Dessau aus ein Korrespondenten- und Beiträgernetz für die von ihm herausgegebenen politischen und statistischen Werke und Almanache aufgebaut, analog dem Muster, das Bahrdt ein Jahrzehnt vorher für den theologischen Bereich bereits entwickelt hatte. Als Crome durch Bahrdts Initiative 1787 nach Gießen kam, widmete er sich neben seiner akademischen Lehrtätigkeit zunächst zusammen mit seinem Kollegen, dem Juristen H. B. Jaup, der Herausgabe einer politischen Zeitschrift, dem zwischen 1790 und 1796 in Gießen erscheinenden Journal für Staatskunde und Politik.
In dieser Zeitschrift ebenso wie in einer Reihe von anderen Veröffentlichungen dieser Zeit sind für Crome Themen zentral, die sich mit der Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland befassen und deren Mißstände aufdecken und anprangern. Pressefreiheit und Zensur sind beispielsweise die zentralen politischen Streitfragen, die Crome in der von ihm 1791 besorgten Ausgabe der Wahlkapitulation Leopolds II.. in einer Weise behandelt, die die Nähe zu den Auffassungen Bahrdts in dieser Frage deutlich werden lassen.

1.8.2. Karl von Knoblauch

Die vielen sinnlosen, aber nicht absichtlosen, Schriften, welche seit einiger Zeit in Deutschland und Frankreich zum Vorschein kommen, und zum Theil gar mit der Maske einer strengen Orthodoxie verlarvt sind, durch welche für ein scharfspähendes Auge hin und wieder doch gewiße anderweite, der Menschheit und selbst dem Interesse der Großen gefährliche Absichten durchblicken, beweisen zur Genüge, daß der Aberglauben, diese Pest des menschlichen Geschlechts, seine lezten Kräfte jezt mit verdoppeltem Effort anwendet, sich wieder auf den Thron emporzuarbeiten, von welchem ihn Kritik, Philosophie, und gesunde Physik zu verdrängen angefangen hatte.69

Mit diesen machtvollen Worten meldet sich ein Verfasser zu Wort, dessen herausragende Bedeutung als Vertreter der deutschen Spätaufklärung vor allem deswegen in ihrer vollen Tragweite erst noch zu entdecken ist, weil er aus Rücksicht auf die beengten Verhältnisse seiner Heimatstadt sich in einen Mantel der Anonymität zu verhüllen gezwungen sah. Der Dillenburger Justizrat Karl von Knoblauch, Mitglied der Deutschen Union, und vor allem durch seine enge Freundschaft mit Georg Friedrich Werner dem Gießener Kreis um Hezel und Crome nahestehend, verbrachte einen großen Teil seiner Zeit bei den Verwandten seiner Frau in Gießen. Zwar zeichnete er sich kaum weniger als Crome durch seinen Kampf für Meinungs- und Pressefreiheit aus, insbesondere bei der Verfolgung des Neuwieder Illuminaten Winz 70 und bei dem gegen Werner angestrengten Zensurprozeß, doch war sein eigentliches Metier die Antithaumaturgie.

Knoblauch hatte, während Bahrdt sich anschickte, die Leitung des Philanthropins in Marschlins zu übernehmen, sich in Gießen dem Studium der Rechtswissenschaften zu widmen begonnen, zu einer Zeit also, in der Kösters Verteidigung des Teufelsglaubens innerhalb von drei Monaten drei Auflagen erlebte. Doch schon bald wechselte Knoblauch den Studienort und ging nach Göttingen, wo er unter dem Einfluß Lichtenbergs und Hißmanns zu einem wortgewandten Kritiker und aufgeklärten Skeptiker heranreifte. Nach seiner Anstellung an der Dillenburger Justizkanzlei begann er, zahlreiche Journale mit Aufsätzen und literarischen Arbeiten zu beliefern, und mauserte sich bald zu einem der bedeutendsten Mitarbeiter der von Wekhrlin und Wieland herausgegebenen Zeitschriften, veröffentlichte auch zahlreiche politisch-philosophische Schriften von hohem literarischen Niveau. Er wurde Anfang der 90er Jahre in verschiedene politische Prozesse verwickelt und bis zu seinem Tod im Jahre 1794, z. T. auch noch darüber hinaus, von der reaktionären Presse, z. B. von Hofmann in Wien und von Grolman in Gießen, heftig angefeindet. Knoblauch, der sich nach eigener Aussage in Dillenburg wie Demokrit in Abdera fühlte, war ständig bemüht, die provinziellen Schranken seiner Heimatstadt zu durchbrechen und mit Gesinnungsgenossen in Verbindung zu treten. Als ihm im Juli 1788 Bahrdts Aufruf an die aufgeklärten Intellektuellen Europas zur Teilnahme an der Deutschen Union ins Haus flatterte, begrüßte Knoblauch ("Ein Feind des Glaubenszwanges, ein Feind des Fürstendespotismus, wie Sie. meine Herren!") die Bestrebungen der Korrespondenzgesellschaft enthusiastisch, wie aus dem Antwortschreiben Knoblauchs vom 17. Juli 1788 deutlich hervorgeht:

Wahrlich, Verehrungswürdige, ich hoffe mir nicht mit übertriebenen Ansprüchen zu schmeicheln, wenn ich mir einbilde, der Ehre würdig zu seyn, der Ihrigen einer zu werden. Daß ich alle meine Kräfte angewendet habe, das unselige Reich des Aberglaubens und der Vorurtheile zu bekämpfen, dafür mögen so viele anonyme Aufsätze von mir [...] und einige kleine Schriften zeugen, welche aus meiner Feder jetzt unter der Presse sind und die ich Ihnen vorzulegen die Ehre haben werde. Philosophie war allezeit das Idol meines Herzens, die Gespielin schon meiner frühern Tage, mein Trost im Unglücke, die Freude meines Lebens - das Ziel meiner Bestrebungen.71

Knoblauch versprach, seine wenigen wirklich aufgeklärten Freunde zum Eintritt in die Gesellschaft zu bewegen, und bat, die Korrespondenz "um meiner häuslichen Verhältnisse willen, d. h. um nicht Aufsehen zu erregen," über den Gießener Buchhändler Krieger abzuwickeln, eine Vorsichtsmaßnahme, die durchaus ihre Berechtigung finden sollte. Knoblauchs Bedürfnis nach intellektuellen Meinungs- und Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten machen auch seine Briefe an Jakob Mauvillon in Braunschweig deutlich,72 mit dem er zwischen 1791 und 1793 einen äußerst umfangreichen und tiefschürfenden politisch-philosophischen Diskurs führte. Zentrales Thema in den Briefen Knoblauchs an Mauvillon ist seine philosophisch begründete Widerlegung des Wunderglaubens, seine Antithaumaturgie, in der er spinozistische Gedankengänge mit den Ideen der Französischen Aufklärung kombiniert. Seine Skepsis gegenüber Berichten von Wundererscheinungen läßt ihn über die Frage nach der Glaubwürdigkeit menschlicher Zeugnisse überhaupt zu grundlegenden erkenntnistheoretischen Erwägungen gelangen. Als Mauvillon 1791 in den Verdacht geriet, einen geheimen Revolutionsplan ausgearbeitet zu haben, wurde seine Korrespondenz überwacht. Als in Kassel Mitte Mai des Jahres mehrere Briefe Mauvillons, darunter einer an Knoblauch, abgefangen wurden, meinte die Behörde, genügend belastendes Material gefunden zu haben, um eine Untersuchung anstellen zu können. In dem Brief an Knoblauch vom 13. Mai 1791 erregte folgende Passage die besondere Aufmerksamkeit der Staatsschützer:

Jede Bemühung scheint mir auch theuer und werth, die darauf geht zu beweisen, daß das Christenthum falsch ist. Denn es hat keine Religion in der Welt meines Erachtens so entsetzlich vielen Schaden der ganzen Menschheit angethan, als diese. Dadurch ist ganz Europa 1500 Jahre lang in eine Pusillanimität versunken, aus der es sich noch nicht loswinden kann. O! ohne diese Superstition wäre der Despotismus bey uns nie so unerschütterlich mächtig geworden: so viele Menschen hätten sich nie wie das Vieh zu Sclaven machen lassen, und wären so lange in der Sclaverey der Leibeigenschaft erhalten worden. Indessen gilt das nur von dem Christenthum als öffentliche Religion; reducirt man es blos auf den unmittelbaren Einfluß des göttlichen Geistes auf jede menschliche Seele, so habe ich nichts dagegen. Fahren Sie ja in Ihren Bemühungen, diese böse Superstition zu stürzen, fort; doch freylich mit der Behutsamkeit, die die Einschränkung der Freyheit zu denken bey uns noch heischt. Denn was hilfts ohne Nutzen den Donquichotten für die Welt zu machen? Das Aufopfern muß man aufbewahren bis zu einer Gelegenheit, wo es recht der Mühe werth ist.73

In freundschaftlich-väterlichem Ton versuchte Mauvillon, den jüngeren und ungestümen Knoblauch zur Vorsicht zu mahnen, und man darf wohl vermuten, daß Mauvillon Bahrdts Inhaftierung als Beispiel im Hinterkopf hatte, als er vor einer unzeitigen Aufopferung warnte. Knoblauch, der im Zuge eines von Kassel ausgehenden Rechtshilfeersuchens von der Dillenburger Regierung verhört wurde, wandte sich daraufhin an die Öffentlichkeit und prangerte die Mißachtung des Briefgeheimnisses an, woraus ein publizistischer Streit über das Recht oder Nichtrecht der Fürsten, Briefe zu erbrechen, entstand.74 Die Straßburger Zeitung, die über den Fall berichtete und ihn für die Ziele der Französischen Revolution propagandistisch zu nutzen suchte, wurde in Hessen-Kassel kurzweg verboten.

Im März 1792 bat Johann Georg Zimmermann, Leibarzt in Hannover, den Landgrafen von Hessen-Kassel um Überlassung der abgefangenen Briefe Mauvillons, um sie seinem Freund Aloys Hofmann zum Abdruck in dessen Wiener Zeitschrift zukommen lassen zu können, und versäumte nicht, eine erneute, schwerwiegende Denunziation gegen Mauvillon vorzubringen, die letztlich dazu führte, daß der Landgraf sich veranlaßt sah, gegen den ‘Illuminatismus’ und sämtliche Ordensverbindungen vorzugehen. Er beauftragte sein Kabinett, geeignete Mittel vorzuschlagen, und ließ ein Prozedere ausarbeiten, innerhalb dessen sämtliche Staatsdiener des Landes durch Ablegung eines Treueeides ihr Verhältnis zu geheimen Verbindungen offenlegen sollten. Während in Kassel diese bereits bis hin zu den Formulierungen der Eidesformeln en detail vorbereitete Aktion im letzten Moment verhindert wurde, war sie vorher schon im Hessen-Darmstädtischen, jedenfalls in Hinsicht auf die Gießener Professorenschaft, durchgezogen worden.

Die zunehmend restriktive Politik der Darmstädter Regierung läßt sich aus einem Reskript ersehen, das am 20. April 1792 u. a. an die Gießener Regierungsbehörde erging und das die Unterdrückung jeglicher staatsgefährdender politischer Literatur anstrebte.75 Das Reskript bedeutete eine Erweiterung der Machtbefugnis der oberhessischen Regierung, an deren Spitze Grolman stand, insofern sich aus dem Wortlaut der Weisung ein Recht ableiten ließ, die Publikationen der Gießener Professoren zu überwachen. Traditionell war die Zensur der Schriften, die aus dem universitären Bereich hervorgingen, eine Obliegenheit der Akademie selbst gewesen. Grolman, der schon bei der Unterdrückung von Bahrdts Glaubensbekenntnis im Jahr 1779 eine Rolle gespielt hatte, zögerte auch nicht lange, von seinen erweiterten Befugnissen Gebrauch zu machen. Bereits am 19. Mai 1792 wurde in einem "Unterthänigsten Bericht der Fürstlichen Regierung zu Gießen" an das Ministerium in Darmstadt eine Schrift Georg Friedrich Werners mit dem Titel Ätiologie 76 als politisch bedenklich denunziert, woraus sich ein mehrere Jahre dauernder Inquisitionsprozeß entspann. Als Knoblauch im Dezember 1792 die in dieser Sache abgegebenen Partikularvoten der Gießener Professoren, die ihm vermutlich von Crome zur Verfügung gestellt worden waren, in der von Archenholz herausgegebenen Zeitschrift Minerva veröffentlichte, eskalierte die Affäre zum Skandal.

Erneut wurde Knoblauch, diesmal veranlaßt durch ein Gießener Rechtshilfeersuchen, von der Dillenburger Regierung verhört, machte aber keinerlei Aussagen, die seine Gießener Freunde belastet hätten. Wie bereits im Zusammenhang mit der Frage der Ordenszugehörigkeit mußten diesmal alle Universitätsangehörigen, bis hinab zu den Pedellen, eidlich erklären, ob sie an der Weitergabe der Voten beteiligt waren oder nicht. Auch diese Aktion brachte keinen Aufschluß, außer der Gewißheit, daß mindestens eine der beteiligten Personen einen Meineid geleistet haben mußte. Grolman war dann auch entsprechend aufgebracht über den leichtfertigen Einsatz des Eides, durch den praktisch jede weitere Ermittlung in der Sache unmöglich gemacht worden war. Nach dem Tode Knoblauchs wurde der Prozeß durch ein Machtwort des Landgrafen im Jahre 1794 beendet. Um so härter verfuhr Grolman gegen einen jungen Juristen, dessen Name im Prozeß gegen Werner gelegentlich schon ins Spiel gebracht worden war, Cromes Privatsekretär Johann Ludwig Justus Greineisen. Grolman warf Greineisen vor, öffentlich aufrührerische Reden im Sinne der Ziele der Französischen Revolution gehalten zu haben.77 Außerdem soll er versucht haben, in Gießen den Konstantisten-Orden zu etablieren, einen Studentenorden also, der Bahrdts Deutscher Union nahestand. Grolman war es gelungen, den Prozeß der Zuständigkeit der Universitätsjustiz zu entziehen, und ließ Greineisen in Kerkerhaft nehmen. Im Zuge der Untersuchung soll Grolman, so versichert Crome in seiner Selbstbiographie, eine regelrechte Kampagne gegen vermeintliche Jakobiner und Illuminaten angezettelt haben, in deren Zusammenhang auch Crome selbst verdächtigt worden sei. Einer aufgeklärten Hofdame der Landgräfin in Darmstadt sei es schließlich zu verdanken gewesen, daß der Hof die übereifrigen Machenschaften Grolmans unterband. Greineisen wurde aus der Haft entlassen, es wurde ihm aber untersagt, sich weiter in der Stadt aufzuhalten. Bei der erwähnten Hofdame handelt es sich um Caroline von Bodé, die älteste Schwester der Ehefrau Karl von Knoblauchs.

Auch gegen den 1791 von Jena nach Gießen gekommenen Philosophieprofessor Karl Christian Erhard Schmid wurde ein Zensurprozeß angestrengt, weil er 1792 die berüchtigte atheistische Schrift De tribus impostoribus unter Umgehung der Zensur hatte drucken lassen.78 Schmid hatte das Buch von seinem Jenaer Studienfreund v. Hardenberg (Novalis) aus dessen elterlicher Bibliothek geschenkt bekommen. Die anhaltende Untersuchung, der Schmid sich daraufhin unterziehen mußte, veranlaßte ihn, sich 1793 aus Gießen zu entfernen und nach Jena zu wechseln. Vergeblich hatte Crome bei dem Staatsminister Gatzert in Darmstadt,79 vordem Professor der Rechtswissenschaften in Gießen, zu intervenieren versucht und ihn gebeten, er möge doch eine Niederschlagung des Prozesses betreiben, da Schmid sonst in Gießen nicht mehr zu halten wäre. Die Zeitschrift, die Schmid in Gießen mit einigen Freunden gegründet hatte, das Philosophische Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl, nahm er mit nach Jena, wo sie später in das berühmte, von Fichte und Niethammer redigierte, Philosophische Journal überging und im Zuge des gegen Fichte geführten Atheismusstreits80 ihr Erscheinen einstellen mußte. Noch nachdem Schmid Gießen verlassen hatte, wurde er im Zusammenhang mit den Untersuchungen wegen Knoblauchs Veröffentlichung der Gießener Partikularvoten zur Vernehmlassung gefordert.

Wie später im Prozeß gegen Fichte wurde bereits im Gießener Prozeß gegen Werner der Vorwurf des Atheismus zum Anlaß genommen, eine politisch mißliebige Opposition, die sich in Gießen um die Mitglieder der Deutschen Union gruppierte, mundtot zu machen. Der reaktionär-konservativen Gruppe um Grolman, der gewissermaßen bei zunehmender Säkularisierung der Konfliktebenen die Nachfolge Benners angetreten hatte, verband sich der Vorwurf des Atheismus mit dem Verdacht, daß er demokratischen Umtrieben Vorschub leiste, deren Bekämpfung nahezu jedes Mittel rechtfertige. Bei einer zunehmenden Verschärfung des politischen Klimas in Gießen war es immer schwieriger geworden, aufgeklärte und fortschrittliche Professoren nach Gießen zu ziehen, eine Aufgabe, die sich besonders Crome angelegen sein ließ. Nach dem Weggang Schmids hatte Crome Schaumann als adäquaten Nachfolger bei dem Staatsminister von Gatzert in Vorschlag gebracht, doch sollten sich die durch Crome geführten Berufungsverhandlungen als äußerst schwierig erweisen, da Schaumann unter Hinweis auf den Prozeß gegen Werner lange zögerte, die Vokation anzunehmen. Auf dem Höhepunkt der ‘Jakobinerriecherei’ in Gießen verbreitete sich das Gerücht, von einem im Kollegiengebäude eingerichteten preußischen Lazarett sei eine Seuche ausgebrochen, woraufhin die Studenten scharenweise die Stadt verließen und zum großen Teil auch nicht mehr wiederkamen. Möglicherweise wurde auch dadurch eine Ausweitung der Prozesse gegen Werner und Greineisen verhindert.

Die hier nur kursorisch angedeuteten Zusammenhänge machen bereits deutlich, daß sich von Bahrdts Berufung nach Gießen bis hin zu den politischen Prozessen in den frühen 90er Jahren eine Brücke schlagen läßt. Dabei ist festzuhalten, daß die Polarisierung der jeweiligen Standorte, für die zunächst die Namen Benner und Bahrdt stehen, eine zunehmend politische Dimension erhält. Die Rolle, die die lutherische Orthodoxie eingenommen hatte, wird durch die reaktionär-konservative Gruppierung abgelöst, die sich um den Hauptredakteur der Eudämonia Grolman rankt. Es ist noch einmal zu erinnern, daß Grolman sich als Schüler Benners begriff. Am deutlichsten aber ist die Kontinuität in der Person Kösters gegeben, der als Parteigänger der lutherisch-orthodoxen Theologie, über die Redaktion der Neusten Religionsbegebenheiten bis hin zur Mitarbeiterschaft an der Eudämonia die gesamte Entwicklung begleitet. Auf der anderen Seite wird die Aufklärungstheologie nach dem Weggang Bahrdts vor allem durch Schulz vertreten. 81 Die Entwicklung bleibt aber nicht auf den theologischen Bereich beschränkt, sondern prägt sich vor allem auf philosophischer und politischer Ebene aus. Eine Beziehung zu Bahrdt bleibt insofern bestehen, daß diese Richtung sich um die Mitglieder der Deutschen Union in Gießen gruppiert, deren zentrale Themen, die Pressefreiheit und Antithaumaturgie, sie mit Bahrdt ebenso gemein hat wie die Nachstellungen und Verfolgungen seitens der politischen Gegner.

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1 Was das Geburtsjahr Bahrdts anbelangt, herrschte in der biographischen Literatur bis vor kurzem eine gewisse Unsicherheit, die aber mittlerweile von Günter Mühlpfordt aufgrund neuentdeckter Quellen ausgeräumt werden konnten. - Günter Mühlpfordt, 1740, nicht 1741. Zu Bahrdts Geburtsjahr. Irrtum oder Manipulation? In: Gerhard Sauder/Christoph Weiß (Hrsg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740 - 1792). St. Ingbert 1992, S. 291-305.

2 Eine solcherart emphatisch behauptete Einschätzung rechtfertigt sich durch die inzwischen knapp 140 oft mehrbändigen Publikationen, wie sie von der neueren Bahrdt-Forschung inzwischen nachgewiesenen bibliographisch erfaßt worden sind. - Vgl.: Otto Jacob und Ingrid Majewski: Karl Friedrich Bahrdt. Radikaler deutscher Aufklärer (25.8.1740 - 23.4.1792). Bibliographie. Halle an der Saale 1992.

3 Ich habe die notorische Unbotmäßigkeit, die sich geradezu als charakteristisches Beschreibungsmerkmal für Bahrdts publizistische Arbeiten herausstreichen läßt, in einem Aufsatz über Bahrdts Aufenthalt in Gießen mit der von Peter Friedrich Nehmiz entlehnten Formel des 'Enthusiasmus für Aufklärung' zu beschreiben versucht. Der Begriff ist einer Passage aus der von Nehmiz 1790 veröffentlichten Verteidigungsschrift für Bahrdt entnommen, in der die Autobiographie Bahrdts als entlastendes Beweismaterial angeführt wird: "Man gehe nur seinen von ihm selbst angegebenen Lebenslauf durch und man wird finden, daß er in seinem Leben bereits die wunderbarsten Schicksale erdulden müssen; und will man jedesmal die Gründe ausspüren, so würde sich mit Zuverläßigkeit finden, daß sein unbezwinglicher Leichtsinn ihm die mehresten Fatalitäten zugezogen habe." [Peter Friedrich Nehmiz:] D. Carl Friedrich Bahrdts rechtliche Vertheidigung. Das einzige zu Beleuchtung seiner neusten Schicksale authentisch bekannte Aktenstück. Regensburg 1790, S. 50. Im nämlichen Sinne appelliert Nehmiz an die Richter zu beherzigen, daß "keine Bosheit des Herzens und übler Vorsatz, sondern auf der einen Seite Enthusiasmus für die Beförderung der Aufklärung, für welche er in seinem langen Leben so unsäglichen Fleis angewendet und so viel gelitten hat, auf der andern Seite sein unbezwinglicher Leichtsinn ihn dahin geführet, keine widrige Folgen zu befürchten" (S. 78). Die Ausführungen machen deutlich, daß das sich emanzipierende Bürgertum der Autobiographie als Artikulationsform seines Selbstbewußtseins und Selbstverständnisses einen so hohen Stellenwert zumaß, daß sie häufiger und eindringlicher auf den weiteren Lebenslauf des Autobiographen zurückwirken konnten, als dies im 19. oder 20. Jahrhundert der Fall war.- Vgl.: Rolf Haaser, Vom unbezwinglichen Leichtsinn des Enthusiasmus für Aufklärung. Karl Friedrich Bahrdt in Gießen, in: Gerhard Sauder und Christoph Weiß (Hrsg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740 - 1792). St. Ingbert 1992. S. 179-226, hier S. 213.

4 Für die Kenntnis des knapp vierjährigen Aufenthalts von Bahrdt in Gießen (1771-1775) ist grundlegend: Wilhelm Diehl: Beiträge zur Geschichte von Karl Friedrich Bahrdts Gießer Zeit. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde. N.F. 8 (1912), S. 199-254. Die äußerst materialreiche Studie präsentiert wichtige Teile des Gießener und Darmstädter Aktenmaterials, weist aber durch eine vordergründig psychologisierende Interpretation der Dokumente z.T. erhebliche Mängel auf. Zwei weitere Arbeiten sind im Rahmen der hier behandelten Themenstellung an vorderer Stelle zu nennen: Gustav Frank: Dr. Karl Friedrich Bahrdt. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung. In: Friedrich von Raumer (Hrsg.): Historisches Taschenbuch. 4. F., 7. Jg. (Leipzig 1866), S. 203-369. Frank ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil er einen Überblick über die literarische Tätigkeit Bahrdts in Gießen und die daraus resultierenden Streitschriften liefert. Die wichtigste neuere Arbeit über die Geschichte von Bahrdts Gießener Zeit ist: Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966. Die als Lebenswerk Bräuning-Oktavios zu betrachtende Arbeit enthält S. 35 ff. und S. 248 ff. eine eigenständige Bahrdt-Studie, die im Vergleich zu Diehl von einer wesentlich breiteren Quellenbasis ausgeht und auch in der Interpretation des Materials zu überzeugenderen Schlußfolgerungen gelangt. Die weitere Spezialliteratur beschränkt sich entweder auf einzelne Aspekte von Bahrdts Aufenthalt in Gießen, oder sie ist nicht eigenständig genug, um wesentlich neue Erkenntnisse vermitteln zu können; der folgende chronologische Überblick mag daher zur Kenntnis des Forschungsstandes genügen: Karl Buchner: Karl Friedrich Bahrdt und der Buchhandel. In: Ders.: Beiträge zur Geschichte des deutschen Buchhandels. 1. Heft. Gießen 1874, S. 62-72. Josef Collin: Professor Karl Friedrich Bahrdt in Gießen. Vortrag von Herrn Realgymnasiallehrer und Privatdocenten Dr. Collin vom 24. Mai 1894. In: Mitteilungen des oberhessischen Geschichtsvereins. N.F. 5 (1894), S. 167-170. Heinrich Bechtolsheimer: Karl Friedrich Bahrdt. Ein Lebens- und Kulturbild aus dem 18. Jahrhundert. In: Hessisches Kirchenblatt. (1903), Nr. 7-12, 20, 21 und (1904), Nr. 6, 8. Heinrich Bechtolsheimer: Dr. Karl Friedrich Bahrdt und sein Aufenthalt in Gießen. In: Festnummer der Darmstädter Zeitung zur dritten Jahrhundertfeier der Universität in Gießen. 1. Aug. 1907, S. 6 f. Heinrich Bechtolsheimer: Dr. Karl Friedrich Bahrdt (Nachtrag). In: Wochenbeilage der Darmstädter Zeitung zur dritten Jahrhundertfeier der Universität Gießen. 2. Aug. 1907, S. 122 f. Paul Drews: Das Eindringen der Aufklärung in der Universität Gießen. In: Preußische Jahrbücher 130 (1907), S. 35-59. Paul Drews: Der wissenschaftliche Betrieb der praktischen Theologie in der theologischen Fakultät zu Gießen. In: Universität Gießen (Hrsg): Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Beiträge zu ihrer Geschichte. Festschrift zur dritten Jahrhundertfeier. Bd. 2, Gießen 1907, S. 245-292. Heinrich Bechtolsheimer: Karl Friedrich Bahrdt in seiner Gießener Zeit (1771 bis 1775). Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Georg Bertram (Hrsg.): Stromata. Festgabe des akademisch-theologischen Vereins zu Gießen im Schmalkaldener Kartell. Leipzig 1930, S. 84-95. Heinrich Bechtolsheimer: Ein giessener Professor (Karl Friedrich Bahrdt) und seine Widersacher. In: Heimat und Bild. Beilage zum Gießener Anzeiger (1931), Nr. 6, S. 21-24. Heinrich Bechtolsheimer: Zur Geschichte der Aufklärung in Deutschland. In: Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte 10 (1935), S. 191-216. Rudolf Ziel: Carl Friedrich Bahrdt. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 60 (1941), S. 412-455. Heinrich Steitz: Gießen, Universität. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 1571-1574. Georg Ploch: Prof. Dr. Bahrdt über Gießen und die "Gießer". In: Hessische Heimat (Gießen). Nr. 8 (10.4.1963), S.31 f. Sten Gunnar Flygt: The Notorious Dr. Bahrdt. Nashville 1963, S. 55-134. Heinrich Steitz: Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. 4 Bde. Marburg 1965. Zweiter Teil: Orthodoxie. Pietismus. Rationalismus. Kap. 6: Der Verfall der theologischen Lehre. S. 270-275. Herman Bräuning-Oktavio: Karl Friedrich Bahrdt. Professor in Gießen (1741-1792). In: Ders.: Wetterleuchten der literarischen Revolution. Johann Heinrich Merck und seine Mitarbeiter an den Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 in Wort und Bild. Darmstadt 1972, S. 80-83. Rüdiger Mack: Johann Christoph Friedrich Schulz und das Eindringen der Aufklärung in die Universität Gießen. In: Peter Moraw und Volker Press (Hrsg.): Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte. Marburg 1982, S. 379-408. Trotz einer derart umfangreichen Forschungsliteratur ist ein erneutes Aufgreifen der Thematik dadurch legitimiert, daß eine wesentlich erweiterte Quellenlage - vor allem durch eine erst vor wenigen Jahren aus Familienbesitz veröffentlichte Autobiographie Ludwig Benjamin Ouvriers - eine Revision erfordert, wobei aufgrund einer eingehenden Analyse des gedruckten und ungedruckten Materials zentrale Topoi der bisherigen Bahrdt-Forschung in Zweifel gezogen werden müssen. Für die vorliegende Arbeit wurde folgendes archivalisches Material mit unmittelbarem Bezug auf Bahrdts Gießener Aufenthalt ausgewertet: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 21/10: Acta die Bestallung 1) des Prof. u. Superint. Bechtold zum 2. Prof. Theologiae und Superintendenten der Marburger Dioeces; 2) des Hofprediger Ouvrier zum 3. Prof. Theologiae und Superintendenten der Alßfelder Dioeces; und 3) des Prof. Barth zum 4. Prof. Theolog. und ihre Besoldungen betr. 1771-1774. E 6 B, 22/3: Die Dimission des Professors Bahrdt. 1775. E 6 B, 23/2: Acta Die Vocirung des Dr. Barth zu Erfurt zur 4. Theologischen Professur in Gießen und was wegen den in Articulo Mysterii ihm vorgeworfenen irrigen Principiis passirt; item das demselben conferirte Assessorat beim frstln. Consistorio das. 1770-1773. E 6 B, 23/4: Die Zänkereyen der Gießer Theologen Dr. Barth, Benner, Ouvrier, Bechtold, Schulz und Schwartz; item Pfarrer Teuthorn zu Biedenkopf. 1772. E 6 B, 23/5: Acta die von dem Obrist und Bau-Director Müller zu Gießen entgegen den dasigen Professorem Theologiae Dr. Barth angebrachte InjurienKlage betr. 1772. E 6 B, 23/6: Acta in Sachen des Fürstl. Heßen-Darmstättischen Fiscalis contra den Professorem Theologiae Dr. Barth zu Gießen. E 6 B, 23/9: Acta die Untersuchung des Professor Barths falscher Lehren und verbreiteten GrundIrrthümer in GlaubensSachen, und die demselben ertheilte Dimission betr. 1775. 1776. Universitätsarchiv Gießen: Theol K 5: Personalakte Bahrdt. -

Unter den im Druck erschienenen Schriften mit Quellencharakter sind bezogen auf Bahrdts Aufenthalt in Gießen zu nennen (chronologisch):

[Johann Georg Gottlob Schwarz ?:] Merkwürdige Geschichte dreyer Betrüger, aus dem sechzehenden und achtzehenten Jahrhunderte. Frankfurt/M. und Leipzig 1778. - Vor allem: Beylage. Sr. Hochwürden des Herrn Professor und Inspektor Schwarzens zu Alsfeld Pflichtmäsiger Bericht und Erklärung auf die Klagschrift Doctor Bahrdts. S. 57-96. [Heinrich Martin Gottfried Köster:] Bahrdtische Sache. In: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1779. 11. Stck. (Nov.), S. 821-876 und 12. Stck. (Dez.), S. 877-921. Karl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Bd. 2. Berlin 1790, S. 142-275. Georg Gottfried Volland: Beyträge und Erläuterungen zu Herrn Doctor Carl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung die er selbst verfertiget. Jena 1791, S. 4 f., S. 70-89, S. 115-117. [Friedrich Christian Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen zu Herrn D. Karl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung; in Briefen eines Pfälzers. o. O. 1791, S. 4, 6, 8-67, 144, 229. Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben und zur Warnung für Eltern und studierende Jünglinge herausgegeben. 2 Teile. Halle 1792. D. Carl Friedrich Bahrdt: In: Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1792, Gotha 1793, S. 119-255. Nachtrag zu Karl Friedrich Bahrdts Leben. In: Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf die Jahre 1790-93. Supplementband. Gotha 1798, S. 22-124. [Degenhard Pott (Hrsg.):] Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769. bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Nebst andern Urkunden. 4 Th. Leipzig 1798. Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Aus meiner Lebensgeschichte, die Bahrdtischen Bewegungen in den Jahren 1771 bis 1775 enthaltend. In: Tholuck (Hrsg.): Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt. (1833) Nr. 41-44, Sp. 321-344 u. 351 f. [Eugen Ouvrier (Hrsg.):] Lebensbeschreibung des D. Ludwig Benjamin Ouvrier. Hofprediger in Darmstadt. Universitätsprofessor in Gießen. Maschinenschriftliche Vervielfältigung, o. O. o. J. [Exemplar: UB Gießen].

5 Degenhard Pott: Pragmatische Geschichte und endlicher Aufschluß der Deutschen Union oder der Zwei-und-Zwanziger, aus ihren Urkunden entwickelt nebst dem vorzüglichsten Briefwechsel derselben. (= Teil 5 der von Pott herausgegebenen Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769. bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Nebst andern Urkunden. Leipzig 1798).

6 Schlichtegroll: Nachtrag zu Bahrdts Leben. S. 31 f: "B. hatte seine Antrittspredigt in Giessen darauf eingerichtet, die gegen ihn eingenommene Bürgerschaft umzustimmen, und ob sie gleich nicht die wundersamen Wirkungen herbrachte, die B. (2, 147 ff.) rühmt, so gefiel sie doch, weil B. darin ein völlig orthodoxes Glaubensbekenntnis ablegte und sie mit vieler Beredsamkeit hielt. Die Bürger sagten: das ist ein grosser Redner und kein so schlimmer Ketzer als man geglaubt hat! Ueberhaupt fanden seine Predigten in Giessen Beyfall, 1) weil er meistens Hauptsätze wählte, die nicht gemein und abgedroschen waren; 2) weil er die Predigten nicht memorirte, sondern nur eine ausführliche Disposition entwarf, worüber er frey aus dem Kopfe sprach, so dass sein Vortrag dadurch populärer und lebhafter wurde. 3) Weil er gut deklamirte. Er hatte zwar etwas von dem breiten Leipziger Accent, aber dennoch war seine Aussprache weniger fehlerhaft. Die Gebete trug er im Tone der innigsten Empfindung vor. 4) Weil er die Zeitumstände und Geschichte des Tages auf sehr gute Art zu benutzen und eizuflechten wusste. 5) Weil er mitunter den Theologen Stiche gab, die man dann immer auf seinen Todfeind, den D. Benner, zog. So fing er z. B. eine Passionspredigt an: 'Meine Freunde, ich zeige euch heute unsern Heiland in den Händen seiner grimmigsten Feinde. Und wer waren diese Feinde? Ich schäme mich, dass ich es sagen muss, es waren Geistliche, und noch dazu solche, die in dem Rufe einer besonderen Rechtgläubigkeit standen; es waren die Pharisäer.' 6) Weil er zuweilen sehr orthodox predigte, allezeit aber die Heterodoxie künstlich versteckte. So hielt er z. B. eine Predigt über die Ewigkeit der Höllenstrafen, worin er diese mit allen möglichen Gründen erwies. Nur am Ende sagte er, er müsse gestehen, dass in Stunden, wo er über die unendliche Liebe Gottes nachdenke, und das Gefühl derselben bey ihm recht lebhaft werde, er sich die Hoffnung einer dereinstigen Begnadigung nicht ganz verwehren könne. Diese Predigt ist mit in einer seiner Predigtsammlungen abgedruckt." Höpfner wird von Schlichtegroll als einer seiner Informanten genannt. Der Bericht über Bahrdts Predigtstil dürfte daher von ihm verfaßt sein. Während seines Gießener Aufenthaltes hat Bahrdt u.a. versucht, das Predigtwesen zu reformieren, wie seine Homiletik und die Bemühungen um die Errichtung eines Predigerseminars belegen.

7 Volland: Beiträge und Erläuterungen, S. 21: "Diese nähere Bekanntschaft hatte auch bei ihr einen Eindruck gemacht, welcher durch eine Predigt, die er in Mühlhausen gehalten, und dabei er seine so vorzügliche Gaben zeigte, nicht wenig verstärkt wurde."

8 Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Aus meiner Lebensgeschichte. S. 335: "Er hielt seine Antrittspredigt, und ein großer Theil der Zuhörer war gewonnen. Seine Kanzelberedsamkeit überglänzte die anderen Prediger alle, so vorzüglich auch einige unter ihnen waren. Indessen gab es doch viele Leute in der Gemeinde, die sich davon nicht blenden ließen. Der Segen am Schluß des Gottesdienstes, den er nicht wie dort gewöhnlich war, sprechend, sondern nach sächsischer Weise singend vortrug, entließ die zahlreiche Versammlung mit einem befremdenden Eindruck, und mein Vater erlaubte sich den Witz, in der Sacristei zu dem alten Benner gewendet: 'er hat den Segen gesungen, er wird das Amen weinen.' Es war prophetisch." Der Verfasser der Erinnerungen ist der in Gießen geborene Kirchenrat und Professor der Theologie in Heidelberg Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766-1837). Der als Literat und vor allem als Reformpädagoge namhafte Schwiegersohn Jung-Stillings und Freund Friedrich Creuzers ist der Sohn des wohl heftigsten Gegners Bahrdts in Gießen, des außerordentlichen Professors der Theologie Johann Georg Gottlob Schwarz (1734-1788). Die im Litterarischen Anzeiger abgedruckten Kindheitserinnerungen von F. H. Chr. Schwarz bilden den auszugsweisen Vorabdruck einer geplanten, aber nicht erschienenen Autobiographie und basieren im wesentlichen auf einer Sichtung des väterlichen Nachlasses, auf eigenen Reminiszenzen sowie auf Mitteilungen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Von besonderem Wert sind die Erinnerungen, weil sie J. G. G. Schwarz als Autor einiger gegen Bahrdt gerichteter anonymer Schriften nachweist. Die umfassendste und kenntnisreichste Arbeit über F. H. Chr. Schwarz stellt der von Hans-Hermann Groothoff und Ulrich Hermann erstellte ausführliche Materialteil zu F. H. C. Schwarz: Lehrbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre. (Neudruck:) Paderborn 1968. dar.

9 Das Bewußtsein dieser Publizität ist, auch wenn Bahrdt seine Gleichgültigkeit gegenüber diesem Phänomen zu betonen sucht, Voraussetzung und konstitutives Element der Autobiographie Bahrdts: "Recensenten und Priester und Theologen und Maurer, und Gott weiß, was sonst noch für Menschenracen, haben mich bereits dermaßen an den Pranger der Publicität gestellt, daß mir die auf mich gerichteten Blicke der Menschen [...] gleichgültig geworden sind." Bahrdt: Geschichte seines Lebens. Bd. 1, S. 4.

10 [Pott:] Briefe an Bahrdt. Bd. 2, S. 281.

11 Vgl. Walter Gunzert: Enthusiasmus für menschliche Größe. Das Leben der Darmstädter Großen Landgräfin Caroline aus Briefen und zeitgenössischen Dokumenten übersetzt und aufgezeichnet. Darmstadt 1976, S. 60.

12 Vgl. Walter Gunzert: Darmstadt zur Goethezeit. Porträts, Kulturbilder, Dokumente zwischen 1770 und 1830. Darmstadt 1982, S. 56.

13 Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. S. 35.

14 Zitiert nach dem Teilabdruck des Briefes in Gunzert: Enthusiasmus. S. 54.

15 Vgl. [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung Ouvriers. S. 25 ff. Herr Dr. Eugen Ouvrier in Lauf/Pegnitz hat mir freundlicherweise Fotokopien der Handschrift zur Verfügung gestellt, so daß für die entnommenen Zitate die Lesefehler des Typoskripts hinsichtlich einiger Eigennamen bereinigt werden konnten.

16 Ebd. S. 25.

17 Ebd. S. 26.

18 Vgl. Gunzert. Darmstadt zur Goethezeit. S. 56.

19 [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung Ouvriers. S. 26: "Wie ich mit meinem Unterricht am Hofe fertig war, [...] ereignete es sich, daß in Gießen der 2. Superintendent und Professor Theol. D. Müller gestorben war, und die Frau Landgräfin brachte mich bei ihrem Gemahl zu dieser Stelle in Vorschlag, welches dann auch von demselben genehmigt wurde."

20 Vgl. Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. S. 37 f. Die dort zusammengestellten Beobachtungen lassen sich bequem in den hier umrissenen Interpretationsrahmen einfügen.

21 Mosers Verhältnis zu Bahrdt wird in der einschlägigen Literatur als die Haltung eines über die Ketzereien Bahrdts erzürnten Pietisten beschrieben, ohne daß die einer solchen Sichtweise widersprechenden Briefe Mosers an Bahrdt berücksichtigt worden wären. Vgl. [Pott (Hrsg.):] Briefe an Bahrdt. Bd. 1, S. 191 f., 211 f., 236 f., 267 f., 271, 314 und Bd. 2, S. 12 f.

22 Vgl. die Briefe Ouvriers an Bahrdt bei [Pott (Hrsg.):] Briefe an Bahrdt. Bd. 3, S. 234-238; des weiteren [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung, S. 28.

23 Eine umfassende Darstellung der Differenzen zwischen lutherischer Orthodoxie und Aufklärungstheologie unternimmt: Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929. Nachdruck: Hildesheim 1969. Heranzuziehen wäre auch die von demselben Autor verfaßte Biographie F. G. Lüdkes, des mit Bahrdt befreundeten Berliner Rezensenten der Allgemeinen deutschen Bibliothek: Karl Aner: Friedrich Germanus Lüdke. Streiflichter auf die Theologie und kirchliche Praxis der deutschen Aufklärung: In: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte (1914), S.160-232.

24 Vgl.: Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984. - Rüdiger Mack: Johann Jacob Rambach in Gießen (1731-1735). In: Ulrich Biester und Martin Ziem (Hrsg.): Johann Jakob Rambach. Leben, Briefe, Schriften. Gießen 1993, S. 47-70.

25 Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1973, S. 14.

26 Schlichtegroll: Nachtrag zu Bahrdts Leben. S. 32 f. Ein Aufenthalt Zechs in Gießen ist für die Zeit zwischen dem 5. und 12. November 1774 nachweisbar; er logierte laut Gießer Wochenblatt vom Jahr 1774 (S. 368) "nebst dero Suite" im Posthaus.

27 Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. S. 3.

28 Vgl. die Eingaben Georg Friedrich Werners in: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 27/1: Untersuchung gegen den Prof. Werner wegen seiner Aetiologie 1792-1794.

29 [Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen, S. 40 f.

30 Johann Friedrich Christian Schwarz: Lebensgeschichte. Sp. 336 ff.

31 Vgl. [Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen, S.46: "Gießen ist überhaupt ein Ort, wo die Fraubaserei und Klatscherei ordentlich zu Hause ist, und wo der, welcher nicht will in der Leute Mäuler kommen, sich sehr regelmäßig betragen muß, und wo Herr Bahrdt schlechterdings mußte beklatscht werden."

32Johann Friedrich Christian Schwarz: Lebensgeschichte. Sp. 336: "Auch erinnere ich mich noch an ein kleines satyrisches Gedicht mit einem Wortspiel aus einer Stelle in Hagedorns Nikol. Klimm, das niedlich gedruckt in Giessen circulierte."

33 Einige Studenten behaupteten, sie seien Bahrdt im Bordell begegnet und dieser habe sie regaliert, damit sie ihren Mund hielten; durchreisende Studenten wurden in den Wirtschaften freigehalten, wenn sie Leipziger oder Erfurter Histörchen über Bahrdt zum besten geben konnten; auch der von der Messe in Leipzig zurückkehrende Sohn des Buchhändlers Krieger konnte bei seiner Leipziger Hauswirtin einige Anekdötchen aus Bahrdts Vorleben in Erfahrung bringen, die die Gießener Öffentlichkeit lebhaft interessierten. Vgl. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen. S. 45 ff.

34 Vgl. Frank: Bahrdt. S. 226.

35 Giesser Wochenblatt (1772), S. 121.

36 Ebd., S. 319.

37 Ebd., S. 323.

38 Giesser Wochenblatt (1773), S. 115.

39 Vgl. Johann Friedrich Christian Schwarz: Lebensgeschichte. Sp. 337: "Obgleich Barth viel Beifall hatte, so nahm doch der meines Vaters nicht ab. Wäre dieser ihm nur in der Exegese überlegen gewesen! Indessen war er doch nicht mit den Commentarien unbekannt, er besaß mehrere der Socinianer, und hiermit eine scharfe Waffe gegen Bahrdt. Denn er pflegte seinen Zuhörern, denen er Kirchengeschichte las, bevor sie fortgingen in die Exegese zu Bahrdt, voraus zu sagen, welche Erklärung dieser vorbringen werde, und las sie ihnen auch wohl aus Crellius oder sonst einem Socinianer vor. Kamen sie nun in das Collegium zu Bahrdt, so trat dieser grade mit derselben Erklärung auf, die er für die seinige ausgab, ja manchmal, wie mir gesagt worden, mit denselben Worten, welche sie eben hatten vorlesen hören. Mein Vater ging in seinem akademischen Humor noch weiter. So wie ein Bogen von Bahrdts 'Neuesten Offenbarungen' erschien, hing er ihn mitten in seinem Auditorium auf. Dergleichen war freilich nicht geeignet, den Frieden zu erhalten, und noch weniger den Streit recht zu führen."

40 Eine nicht geringe Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch der aus Göttingen nach Gießen gekommene Professor Christoph Friedrich Schulz. - Vgl. Mack: Schulz und das Eindringen der Aufklärung. - Das in der Forschungsliteratur häufig zitierte Zerwürfnis der ehemaligen Freunde Bahrdt und Schulz über die Errichtung des Predigerseminars in Gießen scheint mir in der geschilderten Tragweite aufgebauscht, da die Bedeutung dieses Seminars weit geringer anzusetzen ist, als gemeinhin angenommen. Laut einer Notiz des Giesser Wochenblatts vom 15. Dez. 1772 (S. 396) bestand die Einrichtung um die Jahreswende von 1772 auf 1773 gerade einmal aus acht Teilnehmern, sie dürfte also kaum über den Charakter einer homiletischen Übung hinausgegangen sein. Plausibler scheint daher die von Bahrdt in der Geschichte seines Lebens gegebene Erklärung, daß er Schulz (vermutlich fälschlicher Weise) für den Hinterbringer von vertraulichen Informationen aus dem Kreis um Bahrdt an Benner hielt, der der Schwiegervater von Schulz war. Daß Bahrdt an die Bespitzelung seines Privatlebens durch ein Mitglied seines Gießener Freundeskreises glaubte, bestätigt Volland in seinen Beyträgen und Erläuterungen (S. 116).

41 Am ausführlichsten werden die in die Gießener Zeit fallenden Veröffentlichungen Bahrdts bei Frank: Bahrdt. S. 226-235. behandelt. Die Bibliographie, die Bahrdt der Geschichte seines Lebens angehängt hat, ist nicht ganz vollständig. Den neueren Forschungsstand berücksichtigt die von Otto Jacob und Ingrid Majewski erstellte Bahrdt-Bibliographie mit dem Titel Karl Friedrich Bahrdt. Radikaler deutscher Aufklärer (25.8.1740 - 23.4. 1792). Bibliographie. Halle an der Saale 1992. Als Veröffentlichungen Bahrdts während seiner Gießener Zeit haben somit zu gelten:

Bahrdt, Karl Friedrich: Vorschläge zur Aufklärung und Berichtigung des Lehrbegriffs unserer Kirche. Riga 1771.

[Bahrdt, Karl Friedrich:] Urteil eines protestantischen Schriftstellers über das Buch des Justinius Febronius. Nach der französischen Leipziger Ausgabe von dem Jahr 1771 zum Zeitvertreibe des Frauenzimmers ins Deutsche übersetzt an den Ufern des Rheinstromes. [o. O.] 1771.

Bahrdt, Karl Friedrich. Vorrede zu [Gerstenberg, Jakob Heinrich:] Versuch das Herz eines Religionsverächters durch Vorstellung seines eigenen Vorteils zu gewinnen. Nebst einer Vorrede hrsg. v. D. Karl Friedrich Bahrdt. Leipzig 1771.

[Bahrdt, Karl Friedrich ?]: Freie Betrachtungen über die Religion für denkende Leser. Halle 1771.

Bahrdt, Karl Friedrich: Quae vera notio vocabulis [...] in N. T. libris subjecta sit? Gießen 1771.

Bahrdt, Karl Friedrich: De precibus, quas in nomine Jesu facere jubentur novae societatis statores ad Joh. XIV, 13. Gießen 1771

Bahrdt, Karl Friedrich: Vorrede zu [Gerstenberg, Jakob Heinrich:] Versuch, den katholischen Lehrbegriff zu verteidigen, von einem Protestanten. Frankfurt am Main 1772.

Bahrdt, Karl Friedrich: Die ganze Lebensgeschichte unseres Herrn Jesu Christi nach der Zeitordnung und einer ungezwungenen Harmonie aller vier Evangelien entworfen. Leipzig 1772.

Bahrdt, Karl Friedrich: Vorrede zu [Gerstenberg, Jakob Heinrich:] Eden, das ist Betrachtungen über das Paradies und die darinnen vorgefallenen Begebenheiten. Frankfurt am Main 1772.

[Bahrdt, Karl Friedrich:] Sendschreiben an den Herrn Kayser, treuen Hirten der Herde zu Massenheim, von dem Verfasser des Edens. 1772.

Bahrdt, Karl Friedrich: Predigten. Frankfurt am Main 1772.

Fuhrmann [Karl Friedrich Bahrdt]: Leben, Thaten und Charakter des Herrn Carl Renatus Hausen. Deutschland [Halle] 1772.

Bahrdt, Karl Friedrich: Homiletik. Frankfurt am Main, Leipzig 1773.

Bahrdt, Karl Friedrich: Predigten zur Paraphrase des Neuen Testaments. 2 Bde. Riga 1773.

Bahrdt, Karl Friedrich: Kritiken über die Michaelische Bibelübersetzung und die exegetischen Grundsätze, welche er darinnen befolgt hat. Frankfurt am Main 1773.

Bahrdt, Karl Friedrich: Schediasma academicum, quo de theologia Ante-Nicaena quaedam in medium proferuntur, excitandae civium pietati in celebrandis sollemnibus paschalibus destinatum. Gießen 1773.

Bahrdt, Karl Friedrich: Predigten zur Bestreitung schädlicher Vorurteile in der Religion. Leipzig 1773.

Bahrdt, Karl Friedrich: Entwurf einer unparteiischen Kirchengeschichte des Neuen Testaments. Ein academisches Lehrbuch. Frankfurt am Main 1773.

Bahrdt, Karl Friedrich: Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen. Verdeutscht von D. Karl Friedrich Bahrdt. 4 Bde. Riga 1773-1774.

Bahrdt, Karl Friedrich (Hrsg.): Frankfurter gelehrte Anzeigen. Frankfurt am Main 1773/74.

[Bahrdt, Karl Friedrich (Hrsg.) ?:] Lehrbegriff der christlichen Kirche in den drei ersten Jahrhunderten. Zur Prüfung einiger neueren Versuche und Streitigkeiten in der Dogmatik und deren Geschichte. Aus den sichersten Resten des christlichen Altertums in seinem Zusammenhang vorgetragen von Christian Friedich Roesler. Frankfurt am Main 1775.

Bahrdt, Karl Friedrich (Hrsg.): Allgemeine theologische Bibliothek. Mietau 1774-1777.

Bahrdt, Karl Friedrich: De genuina interpretationes loci Matth. V, 17, contra Zeibichianus commentationes. Gießen 1774.

Bahrdt, Karl Friedrich: Apparatus criticus. Ad formandum interpretem Veteris Testamenti. Bd. 1. Leipzig 1775.

Bahrdt, Karl Friedrich: Die Lehre von der Person und dem Amte unseres Erlösers, in Predigten rein biblisch vorgetragen. Frankfurt am Main 1775.

Bahrdt, Karl Friedrich: Lehrbuch der Religion. Deutsch und französisch. Frankfurt am Main 1775..

42 Vgl. Volland: Beyträge und Erläuterungen. S. 4 f.

43 Auf dem Inneneinband des Exemplars der Universitätsbibliothek Halle findet sich folgender Eintrag in der Handschrift Bahrdts: "Der Verfasser [dieser Schrift ist] H. [Jak. Hein=]rich von Gerstenberg, der sein Leben in einer philosophischen Stille zubrachte, und sich unaufhörlich mit theologischen Materien beschäftigte. Er ist der Verfasser vieler anonymischen Schriften z. B. auch der Hypomnematae zur Bahrdtischen Dogmatik, der allgemeinen Gedanken von der Trennung der Christen etc. Er starb zu Erfurt den 3ten April 1776 früh im 64sten Jahr seines Alters. Vielleicht erhalten wir von jemand, der die Freunde mit gewissen Nachrichten unterstützen will, zu seiner Zeit eine ausführliche Beschreibung von allem, was diesen merkwürdigen Gelehrten betrifft."

44 An dieser Stelle ist auf eine amerikanische Dissertation hinzuweisen: John Thomas Brewer: "Gesunde Vernunft" and the New Testament: A Study of C. F. Bahrdt's Die Neusten Offenbarungen Gottes. Diss. Austin/Texas 1962, 169 S. Brewer verfolgt die Absicht, ein umfassenderes Verständnis des Werks, seiner Entstehung und seiner Bedeutung für die deutsche Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts zu vermitteln. Methodisch analysiert er das Werk auf vier Zugriffsebenen: 1. historisch/biografisch 2. philologische Analyse vier ausgesuchter Textstellen im Vergleich mit dem griechischen Original und der Übersetzung Luthers 3. generelle Charakteristik der Übersetzung Bahrdts 4. Untersuchung der zeitgenössischen Wirkung in Deutschland.

45 Vgl. Diehl: Bahrdts Giesser Zeit. S. 218-220. Bechtolsheimer (1930): Bahrdt in seiner Gießener Zeit. S. 69 f.

46 Diehl: Bahrdts Giesser Zeit. S. 220.

47 Bechtolsheimer (1930): Bahrdt in seiner Gießener Zeit. S. 95. Dasselbe Verdikt äußert der Autor auch 1931 in seinem Aufsatz: Ein Gießener Professor und seine Widersacher. In: Heimat im Bild. 12. Februar 1931, S. 24: "Bahrdt war ein hochbegabter Mann, doch war er willensschwach, vielleicht, wie ich es schon angedeutet habe, seelisch krank."

48 [Ouvrier, Eugen (Hrsg.):] Lebensbeschreibung Ouvriers. S. 28 f. Zitat nach einer Fotokopie der Handschrift mit leichten Korrekturen versehen.

49 Giesser Wochenblatt (1772), S. 303-308.

50 Atheisten. In: Giesser Wochenblatt (1772), S. 273-275. Die Gleichsetzung von Atheisten mit Freigeistern findet sich auf S. 273. Der Text ist ein Machwerk übelster Polemik: "Atheisten sind gefährliche Leute in der bürgerlichen Gesellschaft. Man sollte alle diejenige, welche sich dafür ausgeben, auszurotten suchen, wie man Schlangen und andere giftige Tiere zu vertilgen trachtet" (S. 275). Bräuning-Oktavio hat in Herausgeber und Mitarbeiter den Gießener Superintendenten Justus Balthasar Müller als Verfasser identifiziert und nachgewiesen, daß es sich dabei um eine neuerliche Einrückung eines bereits Jahre vorher schon einmal in dem Blatt erschienenen Textes handelt (S. 201). Da der Text sich problemlos in die aktuelle Debatte im Giesser Wochenblatt einreihen ließ, ohne daß man erhebliche nachteilige Folgen behördlicherseits hätte befürchten müssen, war er zu dem Zeitpunkt ein willkommenes Mittel, die Kontroverse ohne großes Risiko fortzusetzen, und man kann wohl vermuten, daß Schwarz für die erneute Einrückung verantwortlich war. Über den von Bräuning-Oktavio als Verfasser des Aufsatzes identifizierten Superintendenten Müller ist in einem anderen Zusammenhang bekannt, daß er in einer literarischen Gesellschaft, in dem die Gießener Professoren den Ton angaben, durch eine Deklamation von Goethes Jahrmarktsfest zu Plundersweiler, worin Bahrdt als Lichtputzer und stellvertretender Hanswurst erscheint, zum Ergötzen seiner Zuhörer beigetragen habe. - Vgl. Briefe des Grafen Friedrich zu Solms-Laubach an seine Mutter. Gräflich Solms-Laubachisches Archiv in Laubach, Oberhessen. Kleines Archiv XVII., 53. - Vgl. auch Helmut Prößler: Friedrich Ludwig Christian Graf zu Solms-Laubach 1769 bis 1822. Darmstadt 1957, S. 11.

51 Vgl. Diehl: Bahrdt. S. 219: "Die Angst und der Schrekken, die Bahrdt in den Monaten Juni bis August 1772 durchgemacht hatte, veranlaßten ihn, etwas vorsichtiger zu sein." Ähnlich S. 221: "In seiner Angst wandte er sich an seinen Freund, den Kanzler Koch."

52 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 23/4: Die Zänkereyen der Gießer Theologen Dr. Barth, Benner, Ouvrier, Bechtold, Schulz und Schwartz; item Pfarrer Teuthorn zu Biedenkopf. 1772.

53 Die zahlreichen und in ihrer bei weitem überwiegenden Mehrzahl gegen Bahrdt gerichteten Streitschriften sind meist von Mitgliedern der hessen-darmstädtischen Geistlichkeit verfaßt und scheinen das Ergebnis einer gezielten Kampagne zu sein. Obwohl auch Verfasser wie Goeze und Goethe sich zu Wort meldeten, ist die Diskussion doch eher als regional begrenzt einzustufen. Folgende Schriften konnten ermittelt werden (chronologisch):

[Benner, Johann Hermann:] D. Karl Friedrich Bahrdts abgenötigte Verantwortung gegen ein unüberlegtes und widerrechtliches Responsum der Wittenbergischen Theologie. Erfurt 1770.

[Benner, Johann Hermann:] D. Karl Friedrich Bahrdts aktenmäßige Gegenrelation in einem Sendschreiben an Herrn Professor Schmidt (zu Erfurt). Erfurt 1771.

Benner, Johann Hermann: Pflichtmäßige Erwägungen, die Religion betreffend: namentlich ein neues Glaubensbekenntnis von der Gottheit überhaupt und der Dreieinigkeit besonders. 2 Bde. Frankfurt und Leipzig 1772/1773.

Keyser, Johann Andreas: Das gerettete Eden von denen Erklärungen des D. Carl Friedrich Bahrden Freunde. Frankfurt am Main 1772.

Teuthorn, Ernst Heinrich: Abgenöthigter Beweis, daß die Lehrer der Evangelischen Kirchen und Schulen besonders in Hessen, keine Mitbrüder des Herrn D. Bahrdts in Giesen, weder sind noch jemalen seyn können. Frankfurt und Leipzig 1772.

Schwarz, Johann Georg Gottlob: Abhandlungen für die Reinigkeit der Religion, 1tes Stück, eine Anzeige einiger der gegen die Heilsordnung und Religion der Christen überhaupt streitenden Irrthümer Hrn. Dr. C. F. Bahrdts. Frankfurt und Leipzig 1772.

Luck, Johann Philipp Wilhelm: Gedanken über die von Herrn Bahrdt Professorn und Predigern zu Gießen herausgegebene Vorschläge zur Aufklärung u. Berichtigung des Lehrbegrifs unserer Kirche. [Marburg] 1773.

Goeze, Johan Melchior: Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des Neuen Testaments keine Übersetzung, sondern eine vorsetzliche Verfälschung und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey, aus dem Augenscheine geführet. Hamburg 1773.

[Keyser, Johann Andreas:] Sendschreiben eines Ungenannten an seinen niedergeschlagenen Freund über die Stürme der Freygeister, womit sie unsere allerheiligste Religion zweifelhaft machen wollen. Verlegt, von einem Freund der Wahrheit. Frankfurt und Leipzig 1773.

[anonym:] Beziehungen auf die Bahrdtischen Vorschläge zur Berichtigung des Lehrbegriffs unserer Kirche. Leipzig 1773.

[anonym:] Untersuchungen über die Lehrsätze des Christenthums, auf Veranlassung der neuen theologischen Streitigkeiten. Berlin 1773.

[Goethe, Johann Wolfgang von:] Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes verdeutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt. Gießen 1774.

[anonym:] Toleranz=Brief an die Oberhessische Geistlichkeit. Frankfurt und Riga 1774. [anonym:] Zweiter Toleranz=Brief eine Unterredung mit dem ersten nebst einem Avertissement die Pränumeration, auf die zwote Auflage, betreffend. Frankfurt und Riga 1774.

[Schwarz, Johann Georg Gottlob:] Vertraute Toleranzbriefe. [Hersfeld] 1774.

[Schwarz Johann Georg Gottlob:] Eines geschworenen Feldschützen Anfrage wegen des Meineids an den hochw. Herrn Bahrdt, Dr. der Heiligen Schrift und geistlichen Professor des christlichen Glaubens in Gießen. Frankfurt am Main 1774.

[anonym:] Die Frage: Ob Christus wahrer Gott sey? Aus den neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, verdeutschet von Hrn. D. Carl Friedrich Bahrdt beantwortet. Halle 1775.

[anonym:] Sendschreiben eines Predigers im Elsaß an seinen in Gießen studierenden Sohn über des D. Bahrdts Neuste Offenbahrungen. Straßburg 1775.

Johann Georg Gottlob Schwarz: Vom Eydschwur, ein Kanzelvortrag. Frankfurt am Main 1775.

Keyser, J[ohann] A[ndreas]: Beweis, daß Dr. Bahrdt die Sprüche des Neuen Testaments, so von der Gottheit Christi handeln, in seiner neuen Uebersetzung falsch übersetzt habe. Frankfurt am Main 1775.

[anonym:] Beweis, daß die neue Lehrart in der Theologie, die Bahrdt zu Gießen vorgeschlagen hat, gar wohl anzunehmen sei. o.O. 1775.

[Johann Hermann Benner:] An die nicht biblischen Reformatoren über die Lehre von der Menschwerdung Christi rein biblisch beurtheilt. o.O. 1775.

Keyser, Johann Andreas: Neue Zugabe zu seinem geretteten Eden und kurze Abfertigung des Sendschreibens an den treuen Hirten zu Massenheim, nach der Revision abgedruckt. Frankfurt am Main 1775.

[Heinrich Martin Gottfried Köster:] Demüthige Bitte um Belehrung an die großen Männer, welche keinen Teufel glauben. In Deutschland 1775.

[Heinrich Martin Gottfried Köster:] Unterthänige Vorschläge den Krieg der Protestanten mit den Verbessern ihres Lehrbegriffs zu endigen, und eine heterodoxe Universität anzulegen. Gedruckt in Deutschland 1776.

[Heinrich Martin Gottfried Köster:] Belehrung des Verfassers der demüthigen Bitte an die großen Männer welche keinen Teufel glauben. Mit Anmerkungen des Verfassers. o.O. 1776.

[Bonnet, Joh. Karl:] Demüthigste Antwort eines geringen Landgeistlichen Auf die demüthige Bitte u.s.f. Mit Anmerkungen. [Frankfurt am Main 1776.]

[Teuthorn, Ernst Heinrich:] Briefe eines reisenden Juden über den gegenwärtigen Zustand des Religionswesens unter den Protestanten, herausgegeben von einem Layenbruder. Gießen 1776.

Schwarz, Johann Georg Gottlob: Die christliche Religion ohne die Lehre von der Genugthuung Jesu, eine philosophische Sekte, oder gutgemeynte Betrügerey; eine Abhandlung. Gießen 1777.

[Bonnet, Joh. Karl:] Des geringen Landgeistlichen Antwort auf die Belehrung des Verfassers der demüthigen Bitte an die grossen Männer welche keinen Teufel glauben in einem Brief an seinen Freund. o.O. 1777.

[Teuthorn, Ernst Heinrich:] Briefe eines reisenden Juden über den gegenwärtigen Zustand des Religionswesens unter den Protestanten und Catholicken. Herausgegeben von einem Layen=Bruder. Dritte mit einigen Briefen vermehrte Auflage. [Gießen] 1778.

[Johann Georg Gottlob Schwarz:?] Merkwürdige Geschichte dreyer Betrüger, aus dem sechzehenden und achtzehenten Jahrehunderte. Frankfurt und Leipzig 1778.

[anonym:] Brief über den Zustand der Kirche und Litteratur unserer Zeit. Speier 1778.

[Cellarius, Johann Friedrich:] Gedanken über Dr. Bahrdts Glaubensbekenntnis von einem evangelischen Christen. Darmstadt 1779.

[Keyser, Johann Andreas:] D. Karl Friedrich Bahrdts Glaubensbekenntnis widerlegt von Orthonoete. 1780.

54 In der 1775 anonym erschienenen Schrift Benners mit dem Titel An die nicht biblischen Reformatoren über die Lehre von der Menschwerdung Christi rein biblisch beurtheilt ist von einer solchen vornehmen Zurückhaltung nicht mehr die Rede, da er sich dort (S. 5-10 u. S. 27) ausdrücklich gegen Bahrdt wendet.

55 Benner bezeichnet seine Pflichtmäßigen Erwägungen im 'Vorbericht' als sein Glaubensbekenntnis von Gott und der Dreieinigkeit und führt in diesem Zusammenhang aus: "Es soll aber die Absicht haben, den Lehrbegrif unserer Kirche aufzuklären, und zu berichtigen. Dann es ist ein Stück von denen, welche unter dieser Aufschrift, als eine Fortsetzung der Toleranzbriefe, an das Licht getreten sind."

56 Benner beschließt seinen Abschnitt über die Toleranz mit dem unverhüllt gegen Bahrdt gerichteten Vorwurf der Unredlichkeit, indem er denjenigen, der die "ungescheute Ausbreitung Socinianischer Irrthümer vor eine Reformation evangelischer Kirchen ausgiebt", einen Wolf im Schafspelz nennt (S. 80).

57 Vgl. Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen 1770 bis 1815. München 1951. Epstein: Ursprünge des Konservativismus in Deutschland.

58 Heinrich Martin Gottfried Köster (1734-1802) war in Guntersblum geboren, hatte das Gymnasium in Idstein besucht, dann in Jena studiert und war Pfarrer in Wallertheim, bevor er als Prorektor und Prediger in Weilburg angestellt wurde, von wo aus er mit Bahrdt in Briefkontakt trat. Es scheint, als habe Bahrdt Köster als Rezensent für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen zu gewinnen gesucht, nachdem er vermutlich durch einige Artikel Kösters im Giesser Wochenblatt auf ihn aufmerksam geworden war. Daneben war Köster Bahrdts Verbindungsmann zu dem Rektor des Weilburger Gymnasiums, dem Philologen und Mathematiker Johann Philipp Ostertag, den er ebenfalls als Rezensenten gewinnen wollte. Bereits die bei Pott abgedruckten Briefe Kösters an Bahrdt lassen erkennen, daß Köster keine große Stütze bei der Verbreitung progressiver Ideen und Inhalte sein würde, da er allzusehr bestrebt war, seine guten Gießener Kontakte nicht aufs Spiel zu setzen. Außerdem versuchte er, Bahrdts Interesse und Verständnis für eine mysteriöse Geistererscheinung zu erregen, deren Glaubwürdigkeit von Köster allem Anschein nach nicht in Zweifel gezogen wurde. Hier sind bereits die Wurzeln für Kösters reaktionäre Wendung zu erkennen, die er vollzog, nachdem er 1773 ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Gießen geworden war. Bis 1775 hatte sich Kösters Teufelsglaube, auf den bereits Aner in Theologie der Lessingzeit und im Anschluß daran Epstein in Ursprünge des Konservativismus in Deutschland hingewiesen haben, so sehr manifestiert, daß er bereits Gegenstand einer selbständigen Veröffentlichung Kösters werden konnte. Daß diese anonym in Gießen erschienene Demüthige Bitte innerhalb von drei Monaten drei Auflagen erleben konnte, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stand der Aufklärung in Gießen in dem Jahr, in dem Bahrdt die Stadt in Richtung Schweiz verließ. Die von Köster 1777 bis 1796 redigierten Neueste Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen sind Ausdruck einer Präsenz der lutherischen Orthodoxie, die nach Bahrdts Abgang nicht nur eine ungebrochene Virilität an den Tag legte, sondern geradezu gestärkt aus den Kämpfen mit der Aufklärungstheologie hervorgegangen zu sein scheint. Kösters reaktionär-konservative Haltung fand ihre konsequente Fortsetzung in seiner späteren Mitarbeiterschaft an der Zeitschrift Eudämonia, deren geistiger Vater der Gießener Regierungspräsident und Schüler Benners Ludwig Adolf Christian von Grolman war und die als eines der zentralen Organe bei der Verbreitung der These von der Verschwörung der Illuminaten in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts Gießen als Obskurantennest in Verruf bringen sollte. Schließlich ist zu Köster noch zu bemerken, daß er als die wohl bedeutendste Gießener Informationsquelle für seinen Schwager Friedrich Christian Laukhard in Betracht kommt.

59 Der Band enthält eine Sammlung mehrerer relativ eigenständiger Polemiken gegen Bahrdt deren umfangreichste, die Merkwürdige Geschichte, dem gesamtem Band den Titel gegeben hat. Obwohl nicht alle diese Beiträge von demselben Verfasser zu stammen scheinen, spricht einiges dafür, daß Schwarz als bedeutendster Beiträger und vermutlich als Herausgeber anzusehen ist, was u. a. aus dem Abdruck eines bis dahin unveröffentlichten, untertänigen Berichts abzulesen ist, den Schwarz 1772 verfaßt und an das Ministerium in Darmstadt eingereicht hatte.

60 Vgl. J. Presser: Das Buch " De Tribus Impostoribus" (Von den drei Betrügern). Amsterdam 1926.

61 Die Dekanatsbucheintragung Benners wird am ausführlichsten besprochen bei Drews: Eindringen der Aufklärung. S. 49 f.

62 Zu dem gesamten Vorgang vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 10, E 10, 2/14: Acta Ministerialia betr. die Confiscation der Schrift "Dr. Carl Friedrich Bahrdt's Glauben-Bekenntnis" die Bestrafung des Herausgebers derselben, Buchhändlers Krieger und den nachherigen Erlaß dieser Strafe. 1779. - Der Titel des Akts ist irreführend, da Krieger nicht der Verleger, sondern lediglich der Vertreiber der Schrift in Gießen war.

63 Vgl. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen, S. 127 ff.

64 [Karl Friedrich Bahrdt:] Kirchen= und Ketzer=Almanach aufs Jahr 1781. Häresiopel, im Verlag der Ekklesia pressa. [1780]

65 Vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 10, 2/15: Hessen-Darmstädtische Akten betr. die Verteidigung des Professors der Geschichte zu Gießen, Heinrich Martin Gottfried Köster, gegen die wider ihn in dem Ketzer-Almanach enthaltenen Verunglimpfungen 1781.

66 Interessanterweise sind Hezel und Crome auch die späteren Lehrer Ludwig Börnes. Für die Herausbildung des politischen Bewußtseins Börnes wäre demnach, unter dem Aspekt der Vermittlung über diese beiden exponierten Vertreter der 'Deutschen Union', eine Langzeitwirkung der aufklärerischen Ideen Bahrdts in Betracht zu ziehen.

67 Vgl. August Friedrich Wilhelm Crome: Selbstbiographie. Ein Beitrag zu den gelehrten und politischen Memoiren des vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderts. Stuttgart 1833, S. 142.

68 J. Keller: Briefe aus dem Philantropinum in Dessau. In: Pädagogische Blätter. Bd. 24 (1895), S. 380.

69 [Karl von Knoblauch:] Ueber die Kunst in der Geschichte zu muthmassen. Aus dem Französischen des Herrn von Alembert. Mit einigen Zusäzen. In: Das graue Ungeheur. Hrsg. v. Wekhrlin. 9. Bd. (1786) S. 168-180, hier S. 179 f.

70 Zu Winz vgl. Werner Troßbach: Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied. Fulda 1991. Unter Anspielung auf ein Gutachten der Marburger theologischen Fakultät im Prozeß gegen Winz läßt Knoblauch eine von ihm erfundene Figur mit Namen Hero im Rahmen eines fiktiven Dialogs folgende Äußerung tun: "Empfehlen sie ihr [der theologischen Fakultät in Marburg] lieber zur Lektur das Schriftchen [Bahrdts]: Ueber Preßfreiheit und deren Gränzen: zur Beherzigung für Regenten, Zensoren und Schriftsteller; ein Produkt das, zum Heil der Menschheit, um zweitausend Jahre eher hätte kommen sollen, das das vollständigste und treflichste Produkt der Preßfreiheit und Aufklärung ist, und das Brevier aller Regenten, Fakultäten und Konsistorien werden sollte." [Karl von Knoblauch:] Hero an Florimund. Antwort. In: Hyperboreische Briefe. Bd. 3. (1788) S. 64 f. Ähnliche Anspielungen auf Bahrdt finden sich auch an anderen Stellen bei Knoblauch. Als zusätzliches Beispiel sei auf eine Stelle in der allegorischen Parabel "Bileam der zweite." hingewiesen, die sich über mehrere Fortsetzungen in Wekhrlins Grauem Ungeheur hinzieht (Bd. 9, S. 334-340, Bd. 10, S. 177-181 und S. 281-285, Bd. 12, S. 109-114). Darin beschreibt Knoblauch ironisch das Verhältnis zwischen der alten Dame Theologie und ihrer jüngeren Stiefschwester Philosophie, genauer den Emanzipationsprozeß, durch den letztere sich über erstere erhebt. Im letzten der vier Teile beklagt sich die Theologie bei der Philosophie:"Sieh nur an, was mir der gottlose Lessing in seinem Nathan, und ein leichtfertiger Schäker in seinen Briefen im Volkston für Schaden gethan haben! - Bahrdt hat aus dem zweiten Blatt meiner Urkunde [d. i. das Neue Testament], durch seine Manie, alles natürlich zu erklären, einen Roman gemacht. Schwester Philosophie lächelte, und sprach: Mich dünkt, meine Gnädige, du sündigest gegen den Sprachgebrauch, und nennest romanhaft, was natürlich, und dem Laufe der Natur gemäß ist; da doch sonst das Ausser= und Uebernatürliche; oder, welches eins ist, das Unnatürliche, und mit bekannten Naturgesezzen streitende, eine Erzählung zur romanhaften Erzählung macht" (Bd. 12, S. 110 f.).

71 [Pott:] Briefe an Bahrdt. Bd. 5, S. 158.

72 F. Mauvillon (Hrsg.): Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Deutschland 1801. S. 190-230.

73 Die Kopie des Briefes, die in der Untersuchung gegen Knoblauch verwendet wurde, befindet sich im Königlichen Hausarchiv in Den Haag: C 26 - Ik: Hinterlassene Papiere des Geheim Raths von Passavant-Passenburg. Aus dem Herzoglich-Braunschweigischen Archiv scheint später Grolman in den Besitz einer Abschrift des Briefes gelangt zu sein, so daß er ihn, versehen mit einem äußerst polemischen Kommentar, in der von ihm redigierten Zeitschrift Eudämonia. Bd. 2 (1796), S. 295-297 abdrukken konnte.

74 Die Debatte wurde vor allem in der Wiener Zeitschrift und in dem Braunschweigischen Journal geführt.

75 Vgl. den auszugsweisen Abdruck des Reskriptes bei Wilhelm Müller: Eine hessen=darmstädtische Verordnung von 1793 wider die Revolutionspoesie. In: Hessische Chronik. Bd. 3 (1914), S. 119.

76 Georg Friedrich Werner: Versuch einer allgemeinen Aetiologie. Gießen 1792. Zu dem gesamten Vorgang vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 27/1: Untersuchung gegen den Prof. Werner wegen seiner Aetiologie 1792-1794.

77 Vgl. Greineisens anonym von ihm herausgegebene Verteidigungsschrift: Eine Geschichte politischer Verketzerungssucht in Deutschland, im letzten Jahrzehend des 18ten Jahrhunderts. Ein Beytrag zur Geschichte des Aristokratism in den Hessen=Darmstädtischen Landen, und der dasigen Obskuranten. Nebst einigen Aufschlüssen über die ehemalige Verbindung des Regierungs=Direktors von Grolman zu Giesen, mit dem Illuminaten=Orden. Deutschland 1796. Wichtige Aufschlüsse über den Vorgang auch bei Crome: Selbstbiographie. S. 234 ff.

78 Es handelt sich dabei augenscheinlich um die fälschlicherweise Eberhard Karl Klamer Schmidt zugeschriebene Ausgabe: Zwey seltene Antisupernaturalistische Manuskripte eines Genannten und eines Ungenannten. Pendants zu den Wolfenbüttelschen Fragmenten. Berlin [Marburg/Lahn] 1792. Bei den beiden Schriften handelt es sich um die Titel De Tribus Mundi Impostoribus breve Compendium und die von Theodor Ludwig Lau im Jahr 1717 veröffentlichten Meditationes Philosphicae de Deo, Mundo, Homine.

79 Vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: E 6 B, 29,2/28: Briefe des RegRats Dr. Crome an Geh.Rat und Staatsminister Frhr. v. Gatzert oder Hesse (?) 1793-1794. Die Briefe sind nachweislich an Gatzert gerichtet.

80 Vgl. Werner Röhr (Hrsg.): Appellation an das Publikum... Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99. Leipzig 1987, 2., korrigierte Auflage Leipzig 1991. Schmid setzte sich als einziger Jenaer Kollege Fichtes für dessen Verbleib an der Universität ein (vgl. ebd. S. 404-406). Von Gießen aus waren Schmids Nachfolger Schaumann und der Theologieprofessor Johann Ernst Christian Schmidt auf der einen und Grolman als Hauptredakteur der Eudämonia auf der anderen Seite am Streit um Fichte beteiligt. Im Jahr 1798 erfolgte sogar im Zusammenhang mit dem Atheismusstreit ein Verbot des russischen Zaren Paul I. an alle seine Untertanen, in Jena oder Gießen zu studieren (vgl. ebd. S. 499).

81 Schulz' Bemühungen, der Aufklärung in Gießen zum Durchbruch zu verhelfen, sind bei Drews: Das Eindringen der Aufklärung und bei Mack: Schulz und das Eindringen der Aufklärung ausführlich geschildert.


   
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